Neuropathie Diagnostik auf dem Prüfstand
Leitlinienautoren sind nicht zu beneiden, besonders wenn belastbare Evidenz fehlt, auf die sich ihre Empfehlungen stützen können. Zur Diagnostik neuropathischer Schmerzen gibt es so gut wie nichts, musste Prof. Dr. Andrea Truini, Universität Rom, einräumen. Unter seiner Federführung entsteht die gemeinsame Leitlinie von EAN, EFIC und NeuPSIG*, deren aktuellen Stand er vorstellte.
Bisher folgt die Diagnose dem 2016 entwickelten Algorithmus von Finnerup N et al.1. Der fordert zwar für die definitive Diagnose eines neuropathischen Schmerzes den objektiven Nachweis der Schädigung des somatosensorischen Systems, legt sich aber hinsichtlich geeigneter diagnostischer Methoden nicht fest. „Wir brauchen klare, transparente, verlässliche Informationen zur Wertigkeit der Tests, die wir täglich in der Praxis einsetzen“, meinte Prof. Truini. Mit ihrer neuen Leitlinie wollten die Autoren genau diese liefern.
Fragebogen helfen, anhand von Schmerzqualität und anderen Symptomen zwischen neuropathischem und nicht-neuropathischem Schmerz zu differenzieren. Eine starke Empfehlung erteilte das Gremium LANSS, DN4 und I-DN4, während die Patientenversion des LANSS (S-LANSS) und der PainDETECT-Fragebogen nur eine „Kann man einsetzen“-Empfehlung erhielten.
Am Beispiel des DN4 (Questionnaire Douleur neuropathique 4) erläuterte Prof. Truini, wie die starke Empfehlung zustande kam. Für ihre Metaanalyse konnten die Wissenschaftler 27 von ursprünglich 212 Artikeln auswerten, in die Daten von fast 5.000 Patienten einflossen. Allerdings lagen ausschließlich Fallkontroll- und Kohortenstudien zugrunde, außerdem bestand ein beträchtliches Biasrisiko aufgrund von Patientenselektion und unklarer Verblindung. Die Gruppe kam trotz der schwachen Evidenz zu dem Schluss, dass Sensitivität und Spezifität des Fragebogens über alle Studien hinweg konsistent hoch waren. Allerdings spielten auch noch pragmatische Überlegungen eine Rolle: Der Zehn-Item-Test ist einfach anwendbar, in vielen Sprachen verfügbar und kostet nichts außer ein bisschen Zeit. Ähnlich bewerteten die Autoren LANSS und I-DN4, während die Ergebnisse für S-LANSS und PainDETECT weniger konsistent ausfielen und deshalb nur für eine schwächere Empfehlung reichten.
Die Quantitative Sensorische Testung (QST), in den frühen 2000ern vom Deutschen Forschungsverbund Neuropathischer Schmerz entwickelt, „ist ein beeindruckendes Werkzeug, das alle Arten sensorischer Afferenzen und das somatosensorische Profil eines Patienten abbildet“, so Prof. Truini. Bisher wird es vor allem in klinischen Studien genutzt, zum Beispiel um Patientengruppen zu stratifizieren. Auch hier blieben aber von 279 gescreenten Studien nur 14 für die Auswertung übrig, wiederum mit hohem Biasrisiko – „das haben wir nicht erwartet“, sagte der italienische Kollege. Sensitivität und Spezifität ließen sich nicht akkurat quantifizieren, die Evidenz wurde als sehr schwach bewertet. Das reichte nur für eine Kann-Empfehlung.
Hautbiopsien lassen sich mit geringem Aufwand gewinnen und liefern per Immunfluoreszenz valide Informationen über den Zustand der Small Fibers. Obwohl von 207 gescreenten Artikeln nur sechs Studien für die Metaanalyse übrig blieben, sah die Evidenz doch solider aus als für andere Tests. Spezifität und Sensitivität sind offenbar konsistent hoch, sodass eine starke Empfehlung herauskam.
Trigeminusreflextests bekamen ebenfalls eine starke Empfehlung, trotz ebenfalls schwacher Evidenz (vier Studien). Das trägt der etablierten Rolle in der klinischen Praxis Rechnung und der Tatsache, dass Spezifität und Sensitivität für den Ausschluss struktureller Defekte an dem Hirnnerv bei annähernd 95 % liegen, erklärte Prof. Truini.
Auch Kontakt-Hitze-evozierte Potentiale (CHEP) sind breit akzeptiert, um das nozizeptive System zu testen. Umso bemerkenswerter ist die dünne Datenbasis. Die Autoren fanden 348 Beiträge, aber nur 26 im Volltext, von denen sich ganze drei für die Metaanalyse qualifizierten. Sensitivität und Spezifität ließen sich wieder nicht akkurat ableiten. „Evidenz sehr gering“ lautet das Urteil, Kann-Empfehlung die Konsequenz, weil auch diese Technik in der Praxis weit verbreitet ist.
Weitere Untersuchungsmethoden wie konfokale Kornea-Mikroskopie (CCM), funktionelle Bildgebung oder Genanalysen gelten als vielsprechend, aber die Datenlage ist noch schwächer als für die oben genannten Techniken. Die CCM könnte in naher Zukunft die Hautbiopsie beim Nachweis der Small-Fiber-Neuropathie ersetzen, muss aber noch mehr Studien vorlegen, meinte Prof. Truini. Ähnliches gilt für periphere Nervenblockaden als Erfolgsprädiktoren für chirurgische Verfahren zur Ausschaltung der betroffenen Nervenbahn, die noch dazu mit dem Problem kämpft, dass sehr unterschiedliche Techniken zum Einsatz kommen. Funktionelle Bildgebung und Genanalysen bewegen sich aktuell noch im Bereich der Forschung und sind nicht praxisreif.
Die dünne Datenlage und die geringe Qualität vieler Studien haben die Leitlinienarbeit erschwert, beklagte Prof. Truini. Hinzu kommt, dass die GRADE-Methodik der Evidenzbewertung für Therapiestudien entwickelt wurde und Schwächen zeigt, wenn es um Diagnostik geht. Das Leitliniengremium musste Qualität der Evidenz weitgehend durch Vertrauen in die Evidenz ersetzen. Trotzdem bleibt das unbefriedigende Fazit, dass das Wissen über die Zuverlässigkeit vieler breit eingesetzter Verfahren nahe Null beträgt, so Prof. Truini. Einzige Ausnahme: die Screeningfragebogen.
* European Academy of Neurology, European Pain Federation, Neuropathic Pain Special Interest Group
Kongressbericht: 8. Kongress der European Academy of Neurology
Quelle: 1 Finnerup NB et al. Pain 2016; 157: 1599-1606; DOI: 10.1097/j.pain.0000000000000492