Orphan Diseases Die Lösung fürs Raritätenrätsel
Eine Krankheit gilt laut gängiger Definition dann als selten, wenn sie bei maximal fünf Betroffenen pro zehntausend Einwohner auftritt. Als „sehr selten“ bezeichnet man Störungen mit einer Prävalenz von weniger als einem Erkrankten pro einer Million Menschen. Allein die europäische Datenbank Orphanet listet derzeit 6.172 verschiedene klinisch definierte seltene Erkrankungen. Über 70 % von ihnen treten nur bei Kindern auf.
Mehr als 4.000 dieser Krankheitsbilder werden als genetisch bedingt eingestuft. Oft handelt es sich um komplexe, schwere und chronische Leiden, die die Patienten und ihre Familien enorm belasten – vor allem dann, wenn die Diagnose unsicher ist oder gar nicht gestellt werden kann.
Jeweils nur eine Handvoll Patienten pro Krankheit
An deutschen Universitätskliniken werden pro Quartal etwa 15.000 Kinder mit unklarer Diagnose und vermuteter seltener Erkrankung behandelt, schreiben Prof. Dr. Heiko Krude von der Charité – Universitätsmedizin Berlin und Kollegen.
Etwa 80 % der jungen Patienten mit einer solchen auch Orphan Disease genannten Störung verteilen sich auf lediglich 150 relativ häufige und teils gut bekannte Krankheitsbilder wie zystische Fibrose (1 Betroffener pro 3.000 Einwohner), angeborene Hypothyreose (1 pro 3.000) und Phenylketonurie (1 pro 10.000). Die mehreren Tausend sehr seltenen Krankheiten mit weniger als einem Betroffenen pro einer Million Einwohner verteilen sich auf weniger als 1 % der Patienten. Aufgrund der geringen Prävalenz haben die behandelnden Ärzte oft keinerlei Erfahrung mit diesen Störungen. So vergehen mitunter Jahre bis zur Diagnosestellung.
In den vergangenen Jahren wurden in der molekulargenetischen Diagnostik unklarer seltener Erkrankungen große Fortschritte erzielt. Ermöglicht wurden diese durch die Einführung schneller Sequenzierungstechniken, etwa dem Next-Generation-Sequencing (NGS). Mittels Exom- und Panelanalyse können die proteinkodierenden Bereiche in einer Vielzahl relevanter Gene zeitgleich untersucht und die unterschiedlichsten Mutationen nachgewiesen werden. Außerdem kennt man inzwischen auch einige Orphan Diseases, bei denen die molekulare Diagnostik ganz neue Therapiechancen eröffnet. Ein Beispiel sind bestimmte Formen der Phenylketonurie (s. Kasten).
Neue Erkenntnisse zur Phenylketonurie
Spezialambulanzen an den Universitäten
Für die Routineversorgung empfehlen die Autoren, den etablierten Weg der Überweisung an eine universitäre Spezialambulanz. Kann dort keine Diagnose gestellt werden, sollte fallkonferenzbasiert über die Indikation zur molekulargenetischen Testung entschieden werden. Wie die Zusammenarbeit in der Praxis funktioniert, demonstrieren Prof. Krude und Kollegen an einem Fallbeispiel: Bei einem vierjährigen Mädchen stellte der Kinderarzt eine Entwicklungsverzögerung mit Kleinwuchs und frühmanifester Adipositas fest. In der Hochschulambulanz fiel zusätzlich ein zentraler Diabetes insipidus centralis und ein Wachstumshormonmangel auf. Häufigere Differenzialdiagnosen wie Prader-Willi-Syndrom und Pseudohypoparathyreoidismus konnten ausgeschlossen werden. Die Exomsequenzierung in einem Zentrum für seltene Erkrankungen ergab letzten Endes eine Mutation im ARNT2-Gen, deren Bedeutung mittels Phänotypisierung und Familienuntersuchung nachgewiesen wurde.Quelle: Krude H et al. Monatsschr Kinderheilkd 2022; 170: 12-20; DOI: 10.1007/s00112-021-01354-y