Der Weg vom Labor in die Praxis Ein Experte liefert Einblicke in die Implementierungsforschung
Dauert es zu lange, bis neue wissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden Eingang in den medizinischen Alltag finden? Nicht unbedingt, sagt Prof. Dr. Michel Wensing vom Universitätsklinikum Heidelberg. Es seien auch genügend Fälle bekannt, in denen Innovationen zu schnell in die Praxis gekommen sind. Eine voreilige Einführung von neuen Medikamenten und Technologien, ohne dass ihr Nutzen und ihre Sicherheit ausreichend geprüft wurden, müsse aber ebenso vermieden werden wie das lange Verschleppen effektiver neuer Behandlungen. Das erläutert der Experte für Implementierungsforschung im Podcast O-Ton Allgemeinmedizin.
Wann die Evidenz gut genug ist für eine Änderung der offiziellen Empfehlungen, lässt sich nicht einfach sagen. Fest steht, dass solche Entscheidungen nicht auf einer einzelnen Studie beruhen können. Stattdessen bedarf es einer Vielzahl von Untersuchungen und ihrer sorgfältigen Auswertung. Auch deshalb kann sich der Prozess von den ersten Studien bis zur klinischen Anwendung eine Weile hinziehen: In der Fachzeitschrift JAMA etwa wurde 2023 berichtet, dass der Zeitraum für eine erfolgreiche Implementierung im Schnitt 17 Jahre beträgt. Eine Zahl, die Prof. Wensing durchaus für realistisch hält – zumindest, wenn man mit den ersten Ergebnissen aus der Grundlagenforschung zu zählen beginnt. Wie lange der Vorgang genau dauert, variiert je nach Komplexität und Art der Forschung.
Hat eine neue Erkenntnis Eingang in die Leitlinien gefunden, bedeutet das noch nicht, dass sie im klinischen Alltag stets umgesetzt wird. Das muss sie auch nicht, betont Prof. Wensing. Evidenzbasierte Medizin sei schließlich mehr, als in jedem Fall die Empfehlungen aus den Guidelines anzuwenden. Es gehöre genauso dazu, klinische Erfahrungen sowie die individuelle Situation der Patientinnen und Patienten zu berücksichtigen.
Eine Verordnung neuer Maßnahmen von oben herab ist dem Experten zufolge ohnehin keine vernünftige Strategie, wenn die Verankerung neuer Behandlungen nachhaltig gelingen soll. Umso spannender war und ist für die Implementierungsforschung die COVID-Pandemie. Vor allem die Anfangsphase ähnelte, was die Implementierung neuer Maßnahmen und Therapien angeht, einem riesigen Feldexperiment. Man konnte dem Prozess, der üblicherweise viele Jahre dauert, wie im Zeitraffer zusehen: von den ersten Studienergebnissen über das Finden eines Expertenkonsens bis hin zur großflächigen Umsetzung.
„Hier hat man mal aufgrund von recht wenig Evidenz Entscheidungen getroffen und in die Praxis gebracht“, so Prof. Wensing. „Und es wurde viel mit Verordnungen und Hierarchien gearbeitet. Kurzfristig kann das die Implementierung sehr fördern. Langfristig ist das aber fragwürdig.“ Denn eigentlich wolle und brauche man Ärzte und Ärztinnen, die sich selbst über die Qualität der Evidenz Gedanken machen. Ihre professionelle Autonomie werde durch zu starre Hierarchien beeinträchtigt.
Ein intensiv diskutiertes Thema ist auch, welche Rolle Patientinnen und Patienten für die Implementierung spielen. Obwohl sie nicht direkt für die Qualität der Versorgung verantwortlich sind, könne beispielsweise eine gründlichere Aufklärung dabei helfen, die gemeinsame Entscheidungsfindung zu verbessern, gibt Prof. Wensing zu bedenken. Ein klassischer Fall: Das Bestehen auf Antibiotika in Fällen, in denen der Einsatz aus wissenschaftlicher Sicht nicht gerechtfertigt ist.
In Deutschland besteht noch Nachholbedarf
Im Vergleich zu anderen Ländern wie den USA und Großbritannien ist die Implementierungsforschung in Deutschland schwächer entwickelt, moniert der Experte. Das Interesse wächst allerdings: So wird etwa der Deutsche Kongress für Versorgungsforschung im September ganz im Zeichen der Implementierungswissenschaft stehen.
Quelle: Medical-Tribune-Bericht
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