Vom Hörsaal in die Neurologie Ein gefäßbedingter Tinnitus sollte immer abgeklärt werden
Im Herbst 2023 kam nach einer Vorlesung zum Thema Schlaganfall in Münster ein Student auf Prof. Dr. Jens Minnerup zu. Das einseitige pulssynchrone Ohrgeräusch, von dem Prof. Minnerup in der Vorlesung gesprochen hatte, war dem 22-Jährigen vor einer Woche zwei Tage lang an sich selbst aufgefallen. Aktuell war er symptomfrei. Prof. Minnerup, mittlerweile Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Lübeck, empfahl ein rasches Handeln. Denn das pulssynchrone Ohrgeräusch ist ein ernstes Symptom, das man zeitnah überprüfen sollte – vor allem bei einseitigem Auftreten und einem klaren Pulsieren.
Eine Möglichkeit, das Symptom bei akutem Auftreten zu objektivieren, ist die Auskultation von Hals und Kopf. Das war bei dem Studenten nicht möglich. Die weitere Abklärung ergibt bei etwa 30 % der Fälle keine spezifische Ursache. In den restlichen 70 % findet sich häufig eine Stenose aufgrund einer Dissektion der Arteria carotis interna. Dagegen führen arteriosklerotische Stenosen selten zu einem plötzlich auftretenden, einseitigen pulssynchronen Ohrgeräusch. Andere mögliche Ursachen sind arteriovenöse Fisteln, gefäßreiche Tumoren an der Schädelbasis, idiopathische intrakranielle Hypertension oder eine Sinusvenenthrombose. Als systemische Ursachen nannte Prof. Minnerup Anämie, Thrombozytopenie und die Schilddrüsenfunktionsstörung. Auch in der Schwangerschaft kann ein pulssynchrones Ohrgeräusch auftreten, aber meist beidseitig.
Im Falle des Studenten war der Ultraschall wegen der begrenzten Sensitivität nicht hinweisend. In der kontrastmittelgestützten Magnetresonanztomographie-Angiographie zeigte sich ein Wandhämatom mit einem auslaufenden Lumen der Arteria carotis interna als typisches Zeichen einer Dissektion. In der transversalen Aufnahme bestätigte sich der Verdacht mit einem deutlich sichtbaren Wandhämatom.
Dissektionen der hirnversorgenden Arterien sind bei Menschen bis 45 Jahre zu 10–25 % die Ursache von Hirninfarkten, erklärte Prof. Minnerup. Sie treten häufig spontan auf, können aber auch nach Traumata entstehen oder als Komorbidität einer Bindegewebserkrankung wie der fibromuskulären Dysplasie, dem Ehlers-Danlos-Syndrom Typ IV, dem Marfan-Syndrom oder der Osteogenesis imperfecta. Bei manifestem Hirninfarkt sollte die Therapie wie üblich mit Lyse und Thrombektomie erfolgen. Ausnahmen stellen intrakranielle intradurale Dissektionen dar, bei denen keine Lyse durchgeführt werden sollte, betonte Prof. Minnerup. Die Prognose ist sehr gut, Rezidive scheinen jedoch keine Seltenheit zu sein.
Für das Management der akuten Dissektion ohne Ischämie und für die Prävention einer Ischämie empfiehlt die Europäische Schlaganfallgesellschaft ESO eine Antikoagulation oder eine Thrombozytenaggregationshemmung. Uneinigkeit besteht darin, welcher Behandlung der Vorzug gegeben werden solle. Die Datenlage ermögliche keine eindeutige Empfehlung, so Prof. Minnerup. Er entscheidet individuell und bevorzugt bei einer Gerinnungshemmung NOAK gegenüber Phenprocoumon.
Der Student wurde zur Überwachung einige Tage stationär aufgenommen. Nachdem sich in der Ultraschallkontrolle eine stabile Situation ohne Dynamik zeigte, wurde er mit NOAK für drei Monate nach Hause entlassen.
Quelle: Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie