Im Interview Ein Lebensende ohne Hektik im Umfeld moderner Onkologie
Übertherapien am Lebensende gelten als typisches Problem der Onkologie. Worin sehen Sie die Gründe?
Prof. Dr. Anne Letsch: Die Onkologie hat sich in den vergangenen zehn Jahren in einem unfassbaren Tempo und in einer weitreichenden Weise entwickelt. Mit den Immuntherapeutika oder zielgerichteten Therapien haben wir Optionen bekommen, die ganz neue Prognosehorizonte eröffnen. Immer mehr Menschen leben durchaus lange mit einer Krebserkrankung und weiteren chronischen Krankheiten.
Allerdings ist auch die prognostische Unsicherheit gestiegen. Vor zehn Jahren konnten wir ganz gut einschätzen, ob jemand noch Wochen, Monate oder Jahre vor sich hat. Dagegen lässt sich heute schwer absehen, wer von neueren Medikamenten profitieren wird und wer nicht. Bei aller gerechtfertigten Hoffnung sollten wir uns vor Augen halten, dass einem Großteil der Patient:innen die moderne Medizin weiterhin nicht oder nur kurz helfen wird. Das erfordert neue Kommunikationsstrategien und ein Double-Awareness-Konzept: Zum einen ist Platz für Hoffnung auf ein langes Leben mit der Erkrankung, auf tatsächliche Behandlungserfolge. Zum anderen dürfen wir nicht vergessen, dass das Leben endlich und die verbleibende Lebenszeit eventuell kürzer ist, als wir es den Betroffenen wünschen. Sich in dieser Balance zurechtzufinden und sinnvoll zu agieren ist manchmal nicht einfach.
Wir sollten deshalb versuchen, parallel zu denken anstatt sequenziell: Nicht zuerst die lebenszeitverlängernde, tumorspezifische Therapie und wenn das nicht mehr funktioniert, dann geht es um Symptomkontrolle und Palliativkonzepte. Wenn wir von vornherein neben der onkologischen Strategie gute, maßgeschneiderte Supportiv- und Palliativkonzepte mit im Blick haben, bieten wir den Menschen die Chance, sich darauf vorzubereiten, dass ihr Weg vielleicht kürzer ist, als sie sich das erhoffen. Dann schaffen sie es im entscheidenden Moment eher, auf eine nochmalige Therapie zu verzichten.
Wie zufrieden sind Sie mit den Endpunkten aktueller klinischer Studien?
Prof. Letsch: Darüber diskutieren wir natürlich viel. Ich glaube, wir brauchen tatsächlich eine Bewegung hin zu mehr Patient:innen-relevanten Endpunkten wie der Lebensqualität. Wir sollten bedenken, zu welchem Preis eine Lebenszeitverlängerung unter Umständen kommt, und welche Auswirkungen das auf das Leben der Erkrankten hat.
Und darunter fallen nicht nur Nebenwirkungen oder Krankheitsbeschwerden, sondern zum Beispiel kostet so eine Therapie die Behandelten auch einfach Zeit und bedeutet Aufwand. Es müssen Sicherheitsmaßnahmen getroffen werden, es stehen Termine und Verbindlichkeiten an. Das sollte man bei so einer Entscheidung auch immer wieder ansprechen, dass wir manchmal einfach viel ‚medizinischen Lärm‘ machen. Da stellt sich schon die Frage: Ist es nicht vielleicht sinnvoller, die Zeit zu Hause zu haben ohne Termine, damit man sich darauf fokussieren kann, was jetzt eigentlich dran ist? Möglicherweise ist das das Abschied nehmen vom Leben, von der Familie, und das geht manchmal verloren in diesem Hetzen von einem Termin zum nächsten.
Wir sollten wirklich keine Scheu davor haben, diese Themen des Lebensendes früh anzusprechen. Das sind ja Gedanken, die schon bei der Diagnosestellung einer Krebserkrankung aufkommen, und wir tun gut daran, sie dann auch direkt zu adressieren. Selbst wenn es noch kein konkretes Thema darstellt, ist die Situation oft ernst genug, Palliativthemen schon einmal Raum zu geben.
Hier am UKSH sind wir gut trainiert darauf, auch auf gemeinschaftliche Entscheidungsfindung. Dazu müssen wir die Menschen in die Lage versetzen, sich aktiv zu beteiligen. Das gelingt manchmal mit ganz einfachen Fragen. Wir haben zum Beispiel Karten, auf denen steht so etwas wie: „Welche Möglichkeiten habe ich, inklusive abwarten und beobachten? Was sind die Vor- und Nachteile und wie wahrscheinlich ist es, dass sie bei mir auftreten?“. Diese drei Anstöße können Betroffenen bereits helfen, die richtigen Fragen zu stellen – was sie sich sonst vielleicht aus Angst vor den Antworten nicht trauen. Wir ermuntern auch dazu, die Sorgen zur Endlichkeit des Lebens innerhalb der Familie zu thematisieren. Unserer Erfahrung nach wirkt das oft sehr stärkend und entlastend. Von unserer Seite aus können wir unterstützen, indem wir unterstreichen, dass wir bereit sind, die verschiedenen Wege mit zu gehen, egal wie jemand sich entscheidet; indem wir den Verzicht auf eine Therapie als gleichwertige Alternative kommunizieren.
Inwiefern kommen bei der Übertherapie Unsicherheiten oder Versagensängste unter Ärzt:innen zum Tragen? Vielleicht sogar die Angst vor Rechtsfolgen, wenn man nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft hat?
Prof. Letsch: Das spielt vor allem in Akutsituationen eine Rolle. Wenn es darum geht, ob man jemanden noch auf eine Intensivstation legt oder wiederbelebt. Solche Maßnahmen sind zumindest in einem Krankenhaus-Setting ja erstmal geboten und man muss sich aktiv dagegen entscheiden. Das gelingt nur, wenn wir frühzeitig Advanced Care Planning, also vorausschauende Lebensplanung, mit den Patient:innen machen.
Wenn wir konkret fragen, was wäre, wenn wir Sie leblos auffinden würden? Was wäre, wenn nur noch intensivmedizinische Maschinen Sie am Leben erhalten könnten? Manche Betroffene sind da auch frühzeitig sehr klar in ihrer Willensbekundung. Anderen fällt es schwer, sich in diese Situation hineinzuversetzen und die Konsequenzen abzuschätzen. Da sollten wir offen kommunizieren, was wir wissen: Dass ein Großteil derer, die mit einer fortgeschrittenen Tumorerkrankung auf der Intensivstation behandelt werden, danach einen deutlich reduzierten Funktionsstatus haben, dass manche pflegebedürftig werden oder diesen Intensivstationsaufenthalt auch nicht überleben. Wir selbst sollten dabei darauf achten, dass wir uns auf Daten und tatsächliche Wahrscheinlichkeiten stützen, und unsere Empfehlungen nicht an erlebten Ausnahmefällen festmachen.
Sie arbeiten an Screening-Instrumenten für die Evaluation des Palliativ- und Supportivbedarfs. Worum geht es da aktuell?
Prof. Letsch: Das Ziel sind maßgeschneiderte Unterstützungskonzepte. Die Belastungen, die jemand mit einer Tumorerkrankung hat, sind komplex. Deshalb brauchen wir multiprofessionelle Angebote, die die heute oft langen Krebsverläufe gut flankieren. Es ist uns zum Beispiel ein Anliegen, Patient-Reported-Outcomes zu integieren, Triggerfaktoren zu definieren, die zu einer Unterstützung führen. Idealerweise wird das in die Routineversorgung integriert, so dass die Bedürfnisse ganz automatisch erfasst werden.
Dazu gehören neben medizinischen Dingen auch finanzielle und soziale Probleme. Manchmal geht es um die Existenzsicherung oder die Unterstützung von Kindern; einige Patient:innen sind selbst pflegende Angehörige. Es gibt zwar ein unglaubliches Portfolio an Angeboten, doch das überfordert viele. Sie sind von dieser Erkrankung und den damit verbundenen Sorgen überfrachtet und wissen manchmal gar nicht, wonach sie fragen sollen.
Unsere Aufgabe besteht darin, dass wir die nötige Unterstützung systematisch im Rahmen unserer Behandlungen sicherstellen, so dass es kein Zufall bleibt, ob jede:r Betroffene erreicht wird. Um auch außerhalb der Klinik regelmäßig Symptome und Bedarfe zu erfassen, könnten digitale Tools nützlich sein. Und es gibt bereits multimodale Unterstützungskonzepte, die mit spezieller Information weiterhelfen: Entspannungsübungen, Anregungen zu körperlicher Aktivität, psychoonkologische Interventionen.
Möchten Sie noch ein paar abschließende Worte an Ihre Kolleg:innen richten?
Prof. Letsch: Im Kontext der Präzisionsonkologie und molekularen Tumorboards suchen wir ja oft in fortgeschrittenen Therapielinien nach dem Strohhalm z. B. in Form von Ansatzpunkten für zielgerichtete Therapien. Das schürt bei den Patient:innen natürlich wieder Hoffnung. Sie sind dann versucht, darauf zu warten, vielleicht durchzuhalten, bis ein diagnostisches Ergebnis vorliegt. Daher sollten wir abwägen, wie realistisch diese Hoffnung ist, ob vielleicht von vornherein zu schwierige Konstellationen bestehen, und umsichtig und bewusst mit den neuen Optionen umgehen.
Kommunikation in der Onkologie war schon immer eine große Herausforderung. Die neuen Therapiekonzepte machen es heute durch die prognostischen Unsicherheiten noch einmal schwieriger, sich bei aller Euphorie selbst zu bremsen. Natürlich sind wir begeistert über die Menschen, die jetzt plötzlich zehn Jahre und länger unter Immuntherapeutika leben. Und trotzdem wissen wir, dass das bei den meisten Entitäten nicht mehr als rund 25 oder 30 Prozent sind. Für die anderen treibt uns das an, die Onkologie weiterzuentwickeln sowie gute Unterstützungskonzepte zu etablieren, sodass wir trotzdem für sie da sind.
Interview: Dr. Moyo Grebbin