Selbstanalgesie mit Alkohol Ein Teufelskreis aus Schmerzen und Trinken

Autor: Dr. Susanne Meinrenken

Im Entzug werden Schmerzen stärker wahrgenommen – was schnell in einen Teufelskreis münden kann. Im Entzug werden Schmerzen stärker wahrgenommen – was schnell in einen Teufelskreis münden kann. © Pormezz – stock.adobe.com

Menschen mit chronischen Schmerzen haben ein hohes Risiko für Substanzmissbrauch, insbesondere für übermäßigen Alkoholkonsum. Das verwundert kaum. Zwischen Schmerz­erkrankungen und Alkoholabhängigkeit gibt es eine ganze Reihe neurophysiologischer und genetischer Gemeinsamkeiten.

Rund ein Fünftel der Patienten im hausärztlichen Bereich leiden unter anhaltenden Schmerzen. Seit 2009 ist die Diagnose „Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren“ in der ICD-10 als F45.41 kodiert. Charakterisiert ist das Krankheitsbild durch somatisch bedingte Schmerzen seit über sechs Monaten, die den Alltag des Betroffenen deutlich einschränken. Hinzu kommen verstärkende, aber nicht ursächliche psychische Faktoren.

Etwa jeder Vierte der betroffenen Patienten greift zum Alkohol, um  Schmerzen zu lindern, schreibt eine Autorengruppe um Dr. Johannes­ Kramer­ von der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum München. Vor allem sind es jüngere Menschen und Männer.

Ein Alkoholabhängigkeitssyndrom besteht dann, wenn sich nach wiederholtem Alkoholkonsum bestimmte Verhaltensweisen sowie verschiedene psychische und körperliche Phänomene einstellen. Die ICD-10 nennt dafür eine Reihe an Kriterien. So muss etwa der starke Wunsch nach Alkohol vorliegen, eine Toleranzerhöhung oder das anhaltende Trinken trotz offenkundiger schädlicher Folgen.

Schmerzlinderung aktiviert das Belohnungssystem

Kurzfristig kann Alkoholkonsum das Schmerzempfinden durchaus positiv beeinflussen, erläutern Dr. Kramer­ und seine Kollegen. Im Entzug werden Schmerzen dann aber stärker wahrgenommen – was schnell in einen Teufelskreis münden kann. Denn Alkohol beeinflusst das Belohnungssystem im Gehirn, das in der Folge einer Schmerzlinderung aktiviert wird. Beispielsweise wird bei moderatem, unregelmäßigem Alkoholkonsum Dopamin periodisch freigesetzt. Bei chronischem Trinken ist der Spiegel dieses Neuro­transmitters hingegen dauerhaft erhöht, was zur Toleranzentwicklung beitragen könnte. Veränderungen in der phasischen und der tonischen Dopaminausschüttung tragen zur Entstehung chronischer Schmerzen bei und könnten ein Belohnungsdefizit zur Folge haben.

Stress steht ebenfalls mit Alkoholkonsum und mit persistierendem Schmerz in Zusammenhang. Unter Stress freigesetzte Dynorphine, die an κ-Opioidrezeptoren binden, hemmen beispielsweise die Dopaminfreisetzung und aktivieren weitere Botenstoffe, die die Schmerzwahrnehmung und Ängstlichkeit erhöhen. Darüber hinaus wurden bestimmte Genpolymorphismen mit Einfluss auf den Dopaminstoffwechsel nachgewiesen, die sowohl bei Alkoholabhängigkeit als auch bei chronischen Schmerzen von Bedeutung sind. Aus Zwillingsstudien ist bekannt, dass beide Krankheitsbilder bis zu etwa 50 % auf genetischen Ursachen beruhen. Vor diesem Hintergrund empfehlen die Autoren, insbesondere bei Schmerzpatienten genau hinzuschauen. Zur Prüfung einer Alkohol­abhängigkeit eignet sich der sogenannte CAGE-Test. Mit vier Fragen wird geklärt,

  • ob der Patient bereits erfolglos versucht hat, das Trinken einzuschränken (cut down drinking),
  • ob er sich schon einmal darüber geärgert hat, dass er für seinen Alkoholkonsum kritisiert wurde (annoyed),
  • ob er sich schon wegen des Konsums schuldig gefühlt (guilty) oder
  • ob er schon einmal morgens getrunken hat (eye opener).

Die konsumierte Menge sollte erfragt werden. Ebenso ist zu klären, ob der Konsum mit den Schmerzsymptomen zusammenhängt. Hinweise hierfür sind,

  • wenn der Patient seit Beginn der Schmerzerkrankung oder bei Schmerzspitzen mehr Alkohol trinkt,
  • wenn sich der Schmerz bei geringerer Alkoholmenge verstärkt,
  • wenn der Patient Alkohol und Analgetika gleichzeitig schluckt.

Der Arzt sollte zudem die Einnahme von missbräuchlich dosierten weiteren Schmerzmitteln oder von unerlaubt erworbenden Substanzen evaluieren.

Liegt zusätzlich zur Alkoholabhängigkeit eine Schmerzproblematik vor, muss man zunächst die an­algetische Therapie optimieren. Der betroffene Patient sollte den Alkoholkonsum nach Möglichkeit beenden, zumindest muss er aber die Trinkmenge reduzieren. Gegebenenfalls ist ein Entzug mit anschließender Entwöhnung notwendig. Eventuell muss man hierzu einen Psychiater oder einen Psychotherapeuten hinzuziehen.

Quelle: Kramer J et al. Schmerzmedizin 2023; 39: 16-21; DOI: 10.1007/s00940-023-4296-9