Schmerz, lass nach! Ein Vier-Säulen-Modell für die Diagnostik von viszeralen Schmerzen
Rund jeder zehnte Mensch leidet unter viszeralen Schmerzen. In der Hausarztpraxis liegt die Prävalenz sogar bei 25–66 %. Die Beschwerden gehen von inneren Organen wie dem Gastrointestinaltrakt, der Harnblase oder der Gebärmutter aus, werden von den Betroffenen häufig als diffus wahrgenommen und können auf andere Regionen ausstrahlen. In einigen Fällen kommen Begleitsymptome wie Übelkeit, Herzrasen, Angst und Schweißausbrüche hinzu.
Die Entstehung und der Verlauf viszeraler Schmerzen wird durch viele Faktoren moduliert, u. a. die Persönlichkeit der Patientinnen und Patienten, Alltagsstress, belastende Lebensereignisse und psychische Komorbiditäten. „Daher sollte bei viszeralen Schmerzsyndromen von Anfang an eine biopsychosoziale Simultandiagnostik erfolgen“, erklärt Prof. Dr. Claudia Christ, Leiterin der Akademie an den Quellen in Wiesbaden. Es sei sinnvoll, den Betroffenen zu erklären, dass Schmerzen eine Art „Gefahrenmelder“ auf körperlicher oder sozialpsychischer Ebene darstellen. Die neuronalen Netzwerke melden: „Hier stimmt etwas nicht.“ Prof. Christ empfiehlt, den Ursachen mit Blick auf ein Vier-Säulen-Modell nachzugehen.
1. Organische und psychische Diagnostik
Im ersten Schritt wird gezielt nach körperlichen und psychischen Erkrankungen gesucht. Eventuell ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit nötig. Neben der Anamnese und der körperlichen Untersuchung liefert die Differenzialdiagnostik weiteren Aufschluss. Dabei sollte man unter anderem an Infektionen, Blutungen, Tumoren und Autoimmunkrankheiten denken. Im Rahmen der psychischen Anamnese gilt es, gezielt nach Ängsten, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, Traumata und Süchten zu fragen.
2. Erfassung der individuellen Stressoren
Massiver Stress kann die geistige und körperliche Gesundheit noch Jahrzehnte später beeinträchtigen. Deshalb lohnt es sich, bei Schmerzpatientinnen und -patienten nach akutem sowie vergangenem (z. B. frühkindlichem) Stress und Traumata zu suchen. Mögliche Fragen sind: Leiden Sie unter Zeitdruck oder Über- bzw. Unterforderung? Haben Sie Geldsorgen? Gibt es Konflikte in ihrer Familie? Haben Sie in Ihrer Kindheit Erfahrungen mit häuslicher Gewalt oder Vernachlässigung gemacht? Fragen dieser Art können den Patientinnen und Patienten auch als Hausaufgabe mitgegeben werden. Idealerweise regt das eine weitere Selbstreflexion an.
3. Erfassung der Lebensereignisse
Das Gehirn verknüpft bestimmte Lebensereignisse mit Emotionen wie Freude, Trauer, Wut, Kränkung oder Hass, die eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Erkrankungen spielen. Die größte Belastung stellt im Allgemeinen der Tod eines nahen Angehörigen dar. Weitere negative Lebensereignisse sind zum Beispiel Krankheiten (bei sich selbst oder bei nahestehenden Menschen), die Trennung von einem Partner oder einer Partnerin oder ein laufendes juristisches Verfahren. Aber auch als positiv empfundene Ereignisse wie eine Heirat, ein Jobwechsel oder der Eintritt in die Rente sind Einschnitte, die sich auf die Entstehung von viszeralen Schmerzen auswirken können. Die subjektive Bewertung solcher Ereignisse durch die Betroffenen hilft bei der Unterscheidung und kann weitere Selbstreflexion anregen.
4. Innere Haltung und Überzeugungen
Zuletzt wirken sich auch innere Einstellungen und Überzeugungen auf den Krankheitsverlauf aus. Negative Effekte sind zu erwarten, wenn die Betroffenen zu stark an Kategorien wie Wollen, Sollen, Können, Müssen, Dürfen oder den entsprechenden Negierungen (Nicht-Wollen, Nicht-Können usw.) festhalten oder in Ambivalenzen stecken.
„Je starrer sich Patientinnen und Patienten an ihre innere Haltung klammern […], desto langwieriger wird die Begleitung – und wir als Behandelnde müssen uns möglicherweise von einem positiven Behandlungsergebnis im Sinne der kurativen Idee verabschieden“, so Prof. Christ. Die frühe Auseinandersetzung der Patientinnen und Patienten mit Stressfaktoren kann den Genesungsprozess positiv beeinflussen.
Quelle: Christ C. Schmerzmedizin 2024; 40: 38-47; DOI: 10.1007/s00940-024-4779-3