Chronisch gastrointestinale Symptome Erhöhtes Risiko für Essstörungen

Autor: Dr. Dorothea Ranft

Manche Patient:innen vermeiden aus Angst vor Symptomen bestimmte Lebensmittel - auch daraus kann sich eine Essstörung entwickeln. Manche Patient:innen vermeiden aus Angst vor Symptomen bestimmte Lebensmittel - auch daraus kann sich eine Essstörung entwickeln. © cemal – stock.adobe.com

Alle Patienten mit chronischen gastrointestinalen Symptomen sollten auf frühere oder aktuelle Essstörungen gescreent werden. Beides tritt oft gemeinsam auf. Frühzeitig Verdacht schöpfen erleichtert die Therapie.

Gastrointestinale Beschwerden wie Übelkeit, Bauchschmerzen und Blähungen finden sich gehäuft bei Patienten mit verändertem Essverhalten. Dabei spielt die Interaktion zwischen Darm und Gehirn eine wichtige Rolle. Viele Patienten mit veränderter Nahrungsaufnahme erfüllen auch die Kriterien für eine funktionelle Darmerkrankung. Am häufigsten ist das Reizdarmsyndrom, erklären Dr. Kyle­ Staller­ von der Harvard Medical School in Boston und ­Kollegen. 

Auch funktionelle Dyspepsie ist oft mit Essstörungen assoziiert und die Refluxkrankheit tritt gehäuft bei bulimischen Patienten auf. Eine weitere bekannte Folge von Ess-Brech- und Magersucht ist die verzögerte Magenentleerung. Die Anorexie verlangsamt eventuell sogar den Kolontransit. Nicht zu unterschätzen ist die akute Magendilatation, ihre negativen Folgen reichen bis hin zu gastraler Nekrose und Perforation. 

Umgekehrt können diverse ­Magen-Darm-Erkrankungen eine Essstörung auslösen oder aggravieren, wenn die Patienten eine Diät einhalten (müssen). Ein Beispiel dafür ist die Zöliakie. Betroffene leiden häufiger an einem veränderten Essverhalten. In einer Studie trugen die Teilnehmer mit Glutenunverträglichkeit ein um 46 % erhöhtes Risiko für eine Anorexie. 

Fehldiagnose der EoE als psychische Störung vermeiden

Fallberichte sprechen zudem für einen Zusammenhang zwischen Essstörungen und der eosinophilen Ösophagitis (EoE): Im Kindes­alter behandelte Patienten leiden als ­Jugendliche vermehrt an einer Störung der Nahrungsaufnahme. Um eine Fehldiagnose der eosinophilen Ösophagitis als genuin psychische Störung zu vermeiden, empfehlen die Autoren deshalb eine bild­gebende Diagnostik

Chronisch-entzündliche Darm­erkrankungen erfordern zwar selten eine spezifische Kostbeschränkung. Aber die zugehörigen Beschwerden können eine Essstörung auslösen oder verschlimmern. Eine wichtige Rolle spielt wahrscheinlich eine aus Angst vor Symptomen eigenmächtig begonnene Diät. Krankheitszeichen wie Bauchschmerz, Erbrechen und Gewichtsverlust können Anlass zu einer Fehleinstufung als psychische Störung geben. 

Red-Flag-Symptome

  • BMI ≤ 75 % des nach Alter, Größe und Geschlecht zu erwartenden Gewichts

  • Hypoglykämie

  • Elektrolytstörungen

  • EKG-Veränderungen

  • hämodynamische Instabilität

  • Orthostase

  • Akutkomplikationen der Mangelernährung (z.B. Pankreatitis, Synkope)

  • Suizidgedanken

Auch andere GI-Erkrankungen beeinträchtigen mitunter infolge einer selbst verordneten Kostmodifikation das Essverhalten. Bekannt ist das z.B. für Gastroparese, funktionelle Dyspepsie, Reizdarm und Obstipation. In einer Studie vermieden Jugendliche mit RDS potenziell auslösende Nahrungsmittel, verzichteten trotz Hunger auf Mahlzeiten oder übergaben sich danach. Eine Arbeit zur chronischen Obstipation ergab, dass 19 % der Teilnehmer die Kriterien für eine Essstörung erfüllten. Auch die beim Colon irritabile oft verschriebene Low-FODMAP*-Diät ist mit einem erhöhten Risiko für Essstörungen verbunden. 

Trotz aller Erfolge in der Behandlung der psychischen Erkrankung leiden viele Patienten weiterhin an gastrointestinalen Beschwerden. Diese können maladaptive Verhaltensweisen verstärken. Außerdem hat die Beeinträchtigung der Nahrungsaufnahme eventuell langfristige neurosensorische Konsequenzen, darunter eine viszerale Überempfindlichkeit und Dysmotilität. Bei der Anorexie verbessert sich mit der Gewichtsrestitution auch das intestinale Mikrobiom (Zellzahl, Vielfalt), aber die hungerbedingten Veränderungen bilden sich nicht vollständig zurück. 

Ein Fragebogen hilft beim Screening auf Essstörungen

Zur Verbesserung der Diagnostik empfehlen die Autoren, sämtliche Patienten mit anhaltenden Magen-Darm-Beschwerden auf eine aktuelle oder durchgemachte Essstörung zu screenen. Dabei kann zum Beispiel der auch auf Deutsch erhältliche SCOFF-Fragebogen helfen. Für eine erste Evaluation dienen die Erhebung der Vitalparameter sowie Labortests und ein EKG. Bei Patienten mit Zöliakie ist zu klären, ob der Patient neben Gluten noch weitere Nahrungsmittel meidet. Bei Reizdarm und eosinophiler Ösophagitis ist eine alimentäre Störung anzunehmen, wenn trotz inaktiver Erkrankung Nahrungsrestriktionen eingehalten werden.

* FODMAP: fermentierbare Oligosaccharide, Disaccharide, Monosaccharide und Polyole

Quelle: Staller K et al. Lancet Gastroenterol Hepatol 2023; 8: 565-578; DOI: 10.1016/S2468-1253(22)00351-X