Evidenzbasierte Komplementärmedizin: Kompetenznetz KOKON will Alleingänge in der Alternativmedizin verhindern
Das Verbundprojekt KOKON wurde 2012 auf den Weg gebracht. Was war der Hintergrund?
Prof. Dr. Christoph Ritter: Hintergrund für diese Initiative ist die Tatsache, dass viele onkologische Patienten komplementäre Therapieansätze nutzen – Therapieansätze, deren Wirksamkeit oft nicht gesichert bzw. deren Unbedenklichkeit nicht gewährleistet ist. Grundsätzlich sind unsere Kenntnisse über komplementäre Therapien noch rudimentär, sodass es selbst Ärzten schwerfällt, sich ein fundiertes Bild zu machen.
Umso schwerer fällt es Patienten, die oft – auch in Ermangelung entsprechender Angebote durch die Schulmedizin – in eigener Regie nach unterstützenden Behandlungsoptionen suchen und sich dadurch eventuell mehr schaden als nutzen. Deshalb ist ein wichtiger Teilaspekt von KOKON die Generierung einer belastbaren Datenbasis zur Komplementärmedizin, die Ärzten bzw. Patienten eine Entscheidungsgrundlage bieten kann.
Wie genau sind Sie dabei vorgegangen?
Prof. Ritter: Für die Beurteilung komplementärer Therapieansätze sind zwei Aspekte von zentraler Bedeutung. Erstens: Ist die Therapie wirksam? Und zweitens: Ist die Therapie sicher oder ist sie mit relevanten Risiken verbunden? Der zweite Themenkomplex beinhaltet auch die Frage nach potenziellen Interaktionen mit Krebsmedikamenten der Schulmedizin – eine Frage, mit der sich unsere Arbeitsgruppe beschäftigt hat.
Federführend bei der systematischen Aufarbeitung von Aspekten zur klinischen Wirksamkeit und Sicherheit waren Ärztinnen und Ärzte im Team von Dr. Markus Horneber am Klinikum Nürnberg, das eng mit dem internationalen Projekt CAM Cancer und auch mit der Cochrane Collaboration zusammengearbeitet hat.
Unsere Arbeitsgruppe in Greifswald hat auf der Basis einer systematischen Literaturanalyse einen Algorithmus entwickelt, der es erlaubt, das Risiko von Interaktionen zwischen etablierten Krebsmedikamenten und komplementären pflanzlichen Präparaten auf der verfügbaren Evidenzbasis zu beurteilen. Relevante neue Daten werden laufend eingepflegt und die Risikobewertung durch den Algorithmus daraufhin automatisch angepasst. Gleichzeitig kann man anhand dieses Programms erkennen, wo es Erkenntnislücken und damit Anlass für zukünftige Forschung gibt.
Haben Ärzte schon Zugriff auf diese Daten?
Prof. Ritter: Die Datenbank mit der Risikobewertung wird zurzeit in dem Versorgungsforschungsprojekt CCC-Integrativ genutzt. Parallel dazu arbeiten wir derzeit sehr intensiv daran, die Datenbank für den öffentlichen Zugang nutzbar zu machen.
Ein weiterer zentraler Baustein des KOKON-Projekts waren Schulungsmaßnahmen, die sich an unterschiedliche Zielgruppen richten ...
Prof. Ritter: Ja, in der ersten Förderphase, die von 2012 bis 2015 dauerte, wurden Schulungskonzepte für Ärzte, Pflegepersonal sowie Gruppenleiter der Selbsthilfe entwickelt. Schulungsinhalte sind evidenzbasierte Informationen zum Thema Komplementärmedizin sowie Kommunikation.
Erst einmal müssen Ärzte und Pfleger aber überhaupt für die Bedürfnisse der Patienten sensibilisiert werden. Onkologische Patienten wünschen sich mehr als nur eine auf den Tumor ausgerichtete Therapie. Sie wünschen sich weitergehende Unterstützung und Therapieangebote, die ihr Wohlbefinden und ihre Lebensqualität verbessern. Und dieses Bedürfnis müssen Ärzte ernst nehmen. Nur dann werden sie bereit sein, sich für die Integration komplementärer Ansätze in onkologische Behandlungskonzepte zu engagieren.
Nun ist eine solche Sensibilisierung ein extrem schwieriges Unterfangen, das sich nicht in einem Wochenend-Crashkurs bewerkstelligen lässt. Wie setzen sie es um?
Prof. Ritter: Das ist richtig. Deshalb wurden die Schulungsprogramme von ausgewiesenen ärztlichen und psychologischen Expertenteams entwickelt. Die Schulungsprogramme liefen über mehrere Wochen und waren nach einem integrierten Lernkonzept aufgebaut, das Präsenz- und E-Learninganteile enthielt. Neben der evidenzbasierten Vorstellung gängiger komplementärmedizinischer Verfahren waren auch Strategien für den Umgang mit medizinisch, ethisch und kommunikativ herausfordernden Gesprächsanlässen wesentliche Schulungsinhalte.
Für Onkologen, pädiatrische Onkologen und Allgemeinmediziner wurden unterschiedliche Schulungsprogramme entwickelt und in kontrollierten Studien evaluiert. Die Studienergebnisse zeigten, dass die Schulungsprogramme von den Fachleuten sehr gut angenommen wurden, zu signifikanten Verbesserungen der Kommunikation zwischen Arzt und Patient führten, die Zufriedenheit der Patienten erhöhten und die Fähigkeit der Patienten zur Entscheidungsfindung beförderten.
KOKON richtet sich darüber hinaus auch direkt an die Patienten. Welche Angebote können diese nutzen?
Prof. Ritter: Alle KOKON-Aktivitäten sind natürlich letztlich auf den Patienten ausgerichtet, wobei die Beratung durch die behandelnden Ärzte einen zentralen Stellenwert einnimmt. Aber auch geschulte Patientenvertreter sind wichtige Multiplikatoren.
Deshalb gibt es ein spezielles Trainingsprogramm für Gruppenleiter der Krebsselbsthilfe, um diese in die Lage zu versetzen, das Thema in den Selbsthilfegruppen in hilfreicher Weise zu moderieren. Auch dieses Trainingsprogramm wurde evaluiert und für effektiv befunden. Die Teilnehmer fühlten sich in der Identifikation von seriösen Informationsquellen unterstützt und schätzten ihre Kenntnisse zum Thema Komplementärmedizin signifikant besser ein als vorher.
Eine Art Checkliste, die Patienten helfen kann, zwischen seriösen und unseriösen Anbietern alternativer Therapieangebote zu unterscheiden, findet man unter: www.iki.usz.ch/forschung/Seiten/kokon-kto.aspx
Nachdem die beiden Förderphasen 2020 abgeschlossen wurden, ist inzwischen in Baden-Württemberg ein Modellprojekt zur interprofessionellen Beratung angelaufen. Was gibt es hiervon bereits zu berichten?
Prof. Ritter: Ja, in diesem Modellprojekt – gefördert durch den Innovationsfond des Gemeinsamen Bundesausschusses G-BA – wird an den vier onkologischen Spitzenzentren in Baden-Württemberg ein innovatives interprofessionelles Beratungsangebot entwickelt, geschult und in einer Studie evaluiert. Der KOKON-Verbund bringt dabei seine Erfahrung aus den ärztlichen KOKON-Schulungsprogrammen und Kommunikationstrainings ein und stellt die Wissensbasis zur Verfügung. Das Modellprojekt CCC-Integrativ – CCC steht für Comprehensive Cancer Center – läuft über drei Jahre und wird mit mehr als fünf Millionen Euro gefördert. In den ersten drei Monaten nach Diagnosestellung werden Krebspatienten von geschulten interprofessionellen Teams individuell zu Chancen und Risiken komplementärer Therapieansätze beraten. Als flankierende Maßnahmen werden für Ärzte und Pflegepersonal der CCCs sowie für Hausärzte Schulungen zur Komplementärmedizin angeboten. Die Wirksamkeit des Beratungskonzepts wird unter diesen Real-Life-Bedingungen evaluiert, wobei das Hauptaugenmerk auf dem Ausmaß der aktiven Beteiligung des Patienten und dem Selbstmanagement seines Gesundheitszustands liegt.Und wie geht's weiter, wenn das Modellprojekt erfolgreich verläuft?
Prof. Ritter: Dann wird angestrebt, dieses innovative interprofessionelle Beratungsangebot flächendeckend bundesweit in die Regelversorgung von Krebspatienten zu übernehmen.
Von den Online-Angeboten könnten Ärzte und Patienten aber auch jetzt schon profitieren. Wie ist denn die Resonanz?
Prof. Ritter: Ja, viele der im KOKON-Projekt entstandenen evidenzbasierten Informationen zu komplementärmedizinischen Verfahren sind auf der Informationsplattform Onkopedia der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (www.onkopedia.com) verfügbar. Auch konnten Informationstexte in die Sammlung des CAM Cancer Consortiums (www.cam-cancer.org) integriert werden. Weiterhin ist das KOKON-Training für onkologisch tätige Ärztinnen und Ärzte (KOKON-KTO) zum Beispiel bereits Bestandteil der Zertifizierung Integrative Medizin in der Onkologie durch die gleichnamige Kommission (IMed) in der Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Onkologie. Außerdem wird es einen Verein geben, der die Arbeit des Kompetenznetzes KOKON im Sinne einer integrativen Onkologie fortführt.
Quelle: Interview