Früher Kontakt mit digitalen Medien behindert kindliche Entwicklung
Lernen mit allen Sinnen: Das hat vor allem im Vor- und Grundschulalter größte Bedeutung, betonen Kinderarzt Dr. Till Reckert aus Reutlingen und Kollegen. Erfahrungen am Bildschirm sprechen nur das Sehen und Hören an, und das auch noch unpräzise. Die Synchronisierung ist nicht exakt und die Stimme kommt nicht aus dem Mund des Sprechenden, sondern aus dem Lautsprecher. Riechen, Schmecken, Vibration, Luftzug und Wärmewahrnehmung: Fehlanzeige. Dadurch werden Mediennutzer tendenziell zu bewegungslosen Kopfmenschen, die sich vom Rest ihres Körpers entkoppeln. Zudem wird weniger effektiv gelernt: Bildschirmvermittelte Lerninhalte verankern sich schlechter als realistische und komplexere Welterfahrungen.
Empathie und Sprachfähigkeit werden kaum gefördert
Bildschirmzeit steht auch in Konkurrenz zur Kommunikation mit echten Menschen – es entwickelt sich weniger Bindung zu Eltern, Geschwistern und Freunden und weniger Empathiefähigkeit. Das könnte im späteren Leben eher zu einem Rückzug in die virtuelle Welt und zu pathologischem Internetgebrauch führen. Dialoge von Angesicht zu Angesicht bieten zudem die Chance für einen umfassenden Spracherwerb, der nicht nur das Erlernen von Lauten, Worten und Satzbildung, sondern das Verstehen von gedanklichen Inhalten über die reinen Wort- und Satzkonstruktionen hinaus bedeutet.
Vom Bildschirm kommen meist Monologe, manchmal sogar von Stimmen ohne Gesicht, und der Konsum der Angebote reduziert messbar die kindlichen Sprachäußerungen sowie die Dialoge in der Familie. Gute Sprach- und Denkfähigkeiten braucht man aber für einen souveränen Umgang mit Medien. Die digitalen Kommunikationsmittel helfen gerade kleinen Kindern nur beim Spracherwerb, wenn sie mit einer direkten zwischenmenschlichen Verständigung verbunden sind, erläutern Dr. Reckert und seine Kollegen. Dafür eignet sich aber das gemeinsame Anschauen von Bilderbüchern sehr viel mehr als zusammen einen Film anzusehen.
Wichtig ist auch das aktive Üben des Sprechens. Dafür muss jemand da sein, der zuhört, sich an der kindlichen Kreativität erfreut und verständlich antwortet. Kreativität als wichtiger Baustein für das Leben gedeiht da, wo wenig vorgegeben wird. Das gelingt nicht, wenn man Kinder dauernd mit Reizen und Handlungsaufforderungen überflutet. Zum Spielen mit den Kleinen nutzen Erwachsene am besten einfaches, traditionelles Spielzeug, das fördert die Kommunikation mit dem Nachwuchs. „Ein gutes Kinderspielzeug besteht zu 90 % aus Kind und zu 10 % aus Zeug“, so die Autoren.
Bildschirmmedien sollten also generell bei Kindern erst eingesetzt werden, wenn die primäre Sinnes- und Motorikentwicklung sowie die Sprach- und Denkentwicklung fortgeschritten sind. Oder kurz gesagt: „Bildschirmfrei bis drei“.
Quelle: Reckert T et al. Kinder- und Jugendarzt 2020; 51: 195-199