Im Behindertensport findet Tanzen zu wenig Beachtung

Autor: Dr. Anja Braunwarth

So sehr wie hier ist Rollstuhltanzen noch nicht im Alltag angekommen. So sehr wie hier ist Rollstuhltanzen noch nicht im Alltag angekommen. © majivecka – stock.adobe.com; iStock/Dar_ria

Behinderte im Breitensport kennt man vor allem vom Basketball. Rollstuhltanzen dagegen fristet eher ein Schattendasein – obwohl es mit nicht-gehandicaptem Partner funktioniert und auch noch schön anzusehen ist.

Ob klassischer Walzer oder Discofox, zum Vergnügen oder als Profi: Der Rollstuhltanz hat viele Facetten. Und im Gegensatz zu den meisten anderen Disziplinen lässt er sich auch mit gehfähigen Partnern erleben. Als Behindertensportart wird er aber erst seit Mitte der 1970er-Jahre geführt. Beim „Duo“ tanzen zwei Rollstuhlfahrer miteinander, in der „Kombi“ sind es ein Rollstuhlfahrer und ein Fußgänger. Die Räder werden gedreht, gestoppt oder gekippt, der Oberkörper nimmt den Rhythmus auf.

Deutscher Top-Tänzer ist seit 1987 querschnittgelähmt

Beide Kategorien gibt es sowohl im Breiten- als auch im Leistungssport. Im Breitensport dürfen auch gleichgeschlechtliche Partner miteinander tanzen und an Turnieren teilnehmen. Altersklassen existieren bei Turnieren innerhalb Deutschlands nicht, jedoch teilweise im Ausland, z.B. in den Niederlanden.

Als deutsches Vorzeigepaar darf man mit Fug und Recht Andrea Naumann-Clément und ihren Mann Jean-Marc Clément bezeichnen. Der 63-Jährige ist seit 1987 wegen einer Querschnittslähmung infolge einer Radiatio auf den Rollstuhl angewiesen. Seine Frau begann als Fußgängerin zunächst 1998 damit, ihn und seine damalige Begleiterin zu trainieren, ohne vorher je klassisches Tanzen gelernt zu haben. Schließlich wurde sie seine Partnerin auf dem Parkett und später auch im Leben.

Die 13-fachen Deutschen Meister An­drea Naumann-Clément und Jean-Marc Clément mit ihrer Trainerin Ulrike Hesemann-Burger.

Die beiden tanzen in der Kategorie LWD 2 (Level Wheelchair Dancing), d.h., bei den teilnehmenden Rollstuhlfahrern ist eine weitestgehend uneingeschränkte Mobilität des Oberkörpers vorhanden. Inzwischen kann das Paar darin 13 Deutsche Meisterschaften vorweisen. „Dazu gehört aber eisernes Training“, berichtet Andrea Naumann-­Clément. Zwei- bis dreimal pro Woche geht es gemeinsam aufs Parkett. Am liebsten tanzen die zwei Wiener Walzer, am besten können sie aber Slowfox. Die 57-Jährige steht genauso regelmäßig auf der anderen Seite. Seit zwölf Jahren hat sie die Lizenz als Übungsleiterin vom Deutschen Tanzsportverband und trainiert selbst mehrere Gruppen. „Ich beobachte, welchen Benefit dieser Sport den Gelähmten bringen kann“, sagt Andrea Naumann-Clément. „Tanzen stabilisiert nicht nur Haltung und Rückenmuskulatur, es fordert und fördert zudem die kognitiven Leistungen.“

Die richtige Haltung macht alltagstauglicher

Selbst der umfassend trainierte Jean-Marc Clément spürt immer wieder die Auswirkungen – und auch die Pausen. „Manchmal brauche auch ich im Training eine ganze Weile, ehe ich meinen Oberkörper wieder in die richtige Position bringen kann.“ Die richtige Haltung im Rollstuhl zahlt sich aber generell aus, „sie macht uns alltagstauglicher“.

„Am besten ist, was Spaß macht!“

Dr. Mirko Aach ist Leiter der Abteilung für Rückenmarkverletzte am BG Universitäts­klinikum Bergmannsheil Bochum.

Ob Tanz, Basketball oder Schwimmen: Aus Sicht des Wirbelsäulenspezialisten ist es für die Gesundheit von Querschnittsgelähmten praktisch egal, welchen Sport sie ausüben. „Die beste Disziplin ist die, die am meisten Spaß macht“, sagt Dr. Mirko Aach. Der Leiter der Abteilung für Rückenmarkverletzte am Berufsgenossenschaftlichen Universitätsklinikum Bergmannsheil in Bochum sitzt selbst seit einem Skiunfall vor vielen Jahren im Rollstuhl. „Wem es mehr auf Ausdauer ankommt, fühlt sich vermutlich beim Handbiken, Skilanglaufen oder Schwimmen gut aufgehoben, wer schnelle und kräftige Aktionen bevorzugt, beim Basketball, Sprintrollstuhl oder Tischtennis.“ Das Tanzen kann eine alte Liebe sein oder neu entdeckter Spaß. Laut Dr. Aach hilft es, die Haltung zu verbessern – vornehmlich natürlich bei Paraplegikern. Außerdem fördert es den Selbsthilfe­status und die Kontrolle über den Rollstuhl. Die Sportart eignet sich nicht nur für Querschnittsgelähmte, sondern ebenso für MS-Kranke, Menschen mit Spina bifida, Muskeldystrophien oder neurodegenerativen Erkrankungen wie Amyotropher Lateralsklerose, solange eine Restbeweglichkeit vorhanden ist. Manchmal kurven sogar Gesunde über das Parkett. Aus dem Basketball kennt man viele Nicht-Behinderte, die sich freiwillig in den Stuhl setzen, weil sie Spaß an der Bewegung auf Rädern haben. „Wer von Haus aus gerne tanzt, kann das ruhig auch mal im Rolli ausprobieren“, so der Tipp von Dr. Aach.

Bundesweit existieren 25 Vereine des Deutschen Rollstuhl-Sportverbandes, Tendenz leider fallend. „Gerade Trainer der älteren Garde bremsen die Behinderten oft aus, weil sie den Sport für zu anstrengend halten“, erklärt Andrea Naumann-Clément. Außerdem gibt es nur wenig Werbung dafür, und nicht zuletzt ist das Ganze oft eine Kostenfrage. Denn man braucht spezielle Rollstühle. Ein einfacher „Aktivrollstuhl“ kostet etwa 2000–2500 Euro – ein Betrag, den die Kassen übernehmen. Für eine gute Tanzausführung werden aber insgesamt etwa 6000 Euro fällig. Derzeit entscheidet sich etwa einer von 50 Gelähmten nach der Klinikentlassung, es einmal mit dieser Sportart zu versuchen.

Medical-Tribune-Bericht