Pestizide und Schilddrüsenkrebs Im Dunstkreis zwischen Gut und Böse
Zahlreiche Pestizide können die Funktion der Schilddrüse beeinflussen. Neben Auswirkungen auf die hormonellen Eigenschaften diskutieren Experten auch immer wieder einen kanzerogenen Effekt. Die Autoren epidemiologischer Untersuchungen fanden aber bisher widersprüchliche Ergebnisse, möglicherweise aufgrund der nicht ausreichenden Differenzierung zwischen den verschiedenen Inhaltsstoffen. Epidemiologen um Dr. Catherine C. Lerro vom National Cancer Institute in Bethesda lieferten jetzt neue Daten.1
Sie nutzten dazu Informationen aus der langfristig angelegten Agricultural Health Study (AHS). Darin werden seit den 1990er-Jahren mehr als 57.000 Männer in den Staaten Iowa und North Carolina erfasst, die privat oder kommerziell in der Landwirtschaft tätig sind und daher regelmäßig mit Pestiziden in Kontakt kommen. Von ihnen hatten insgesamt 85 ein Schilddrüsenkarzinom bis zu den Jahren 2014/15 entwickelt.
Zu Studienbeginn und während des Follow-ups machten die Teilnehmer Angaben zur Nutzung von 50 Pestiziden. Daraus errechneten die Autoren das Risiko für eine Tumorerkrankung in Abhängigkeit von einzelnen Substanzen. Bei 44 Inhaltsstoffen, die von mindestens fünf erkrankten Männern verwendet wurden, konnten die Forscher nur die Nutzung als solche berücksichtigen („ever use“). Für 22 Wirkstoffe hingegen, die von zehn oder mehr von einem Schilddrüsenkarzinom betroffenen Teilnehmern verwendet wurden, korrelierten sie die Lebenszeit-Exposition mit dem Risiko.
„Mehr als 90 % der Menschen sind Pestiziden ausgesetzt“
Mit der Nutzung des Fungizids Metalaxyl, das in der EU seit Juni 2021 verboten ist2, verdoppelte sich das Risiko für Schilddrüsenkrebs (Hazard Ratio [HR] 2,03; 95%-KI 1,16–3,52). Für das Organochlorin-Insektizid Lindan, das seit 2008 in Europa nicht mehr verwendet werden darf3, erhöhte es sich um rund 75 % (HR 1,74; 95%-KI 1,06–2,84).
Dagegen halbierte sich mit dem Herbizid Chlorimuron-Ethyl das Risiko für papilläre Schilddrüsentumoren (HR 0,52; 95%-KI 0,28–0,96). Eine intensive Nutzung des Insektizids Carbaryl (in Europa nicht mehr zugelassen4) reduzierte das Risiko um 80 % (HR 0,20; 95%-KI 0,08–0,53; p für einen Trend = 0,001).
Die Inzidenzraten für Schilddrüsenkarzinome steigen, schreiben die Autoren in ihrem Fazit. Dass Pestizide, gegenüber denen Schätzungen zufolge mehr als 90 % der Menschen exponiert sind, dabei eine kausale Rolle spielen, wird lange vermutet. In dieser neuen Kohortenstudie untersuchten die Forscher detailliert den Einfluss von nicht-persistierenden aktiven Inhaltsstoffen und fanden ein wohl erhöhtes Krebsrisiko durch Metalaxyl und Lindan, während Carbaryl möglicherweise das Risiko stark reduzieren kann. Die Nutzung von Chlorimuron-Ethyl scheint das Risiko für papilläre Tumoren zu senken.
Gerade diese inverse Korrelation könnte aber laut den Autoren eher Zufall sein, da sie bisher nicht in der Literatur beschrieben wurde. Die Wissenschaftler heben außerdem die niedrige Inzidenz von Schilddrüsenkarzinomen in der Studie hervor.
Es sei daher kaum möglich, seltenere Pestizid-Expositionen zu evaluieren. Außerdem sei es wünschenswert, die Ergebnisse in unabhängigen Populationen zu replizieren und Daten für Frauen, die häufiger an diesen Tumoren erkranken, zu erheben.
Quellen:
1. Lerro CC et al. Environ Int 2021; 146: 106187; DOI: 10.1016/j.envint.2020.106187
2. bit.ly/bvl_pflanzenschutzmittel
3. bit.ly/Verordnung_Schadstoffe
4. bit.ly/Carbaryl