Stress im Ohr Kann psychische Belastung einen Tinnitus hervorrufen?
Stress kann durch eine dauerhaft zu große Belastung entstehen, aber auch durch ein einmaliges, schwerwiegendes Ereignis. In beiden Fällen kann Stress im Körper pathologische Vorgänge auslösen oder verstärken, indem er das Verhalten, die emotionale Regulierung oder neurohormonelle Funktionen stört, schreiben Prof. Dr. Laurence McKenna und Dr. Florian Vogt vom University College London. Bisher sei jedoch wenig darüber bekannt, welche Auswirkungen stressige Lebensereignisse auf die Entstehung oder Aufrechterhaltung von Tinnitus haben können.
Betroffene geben häufig an, dass ihr Ohrgeräusch erstmals in einer Zeit erhöhter psychischer Belastung auftrat – etwa nach dem Tod eines geliebten Menschen, mitten in einer Scheidung oder während finanzieller Schwierigkeiten. Aufgrund der verfügbaren (teils unpublizierten) Daten und ihrer eigenen klinischen Erfahrung gehen die Autoren davon aus, dass rund die Hälfte der Tinnitusfälle im zeitlichen Zusammenhang mit einem stressigen Lebensereignis auftritt.
Einem hypothetischen Modell zufolge löst Stress auf folgende Weise einen Tinnitus aus: Eine bereits vorhandene spontane Aktivität im subkortikalen auditorischen System stellt eine Art „Tinnitusvorläufer“ dar. Dieser wird unter normalen Bedingungen ignoriert. Bestimmte Trigger können aber die Intensität dieser Aktivität beeinflussen und so zu einem wahrgenommenen Tinnitus führen.
Dauerstress hält das Ohrgeräusch aufrecht
Chronische, stressbedingte Prozesse spielen den Autoren zufolge eine zentrale Rolle bei der Aufrechterhaltung und Verstärkung des Ohrgeräuschs. So berichteten in einer Studie rund 50 % der Patientinnen und Patienten, dass sich ihr Tinnitus in Stressphasen verschlimmert. Emotionale Erschöpfung scheint zudem ein besserer Prädiktor für die Schwere der Symptome zu sein als andere Faktoren, etwa das Ausmaß des Hörverlustes.
Chronischer Stress beeinträchtigt nicht nur die emotionale Regulation, sondern verstärkt auch die selektive Aufmerksamkeit auf den Tinnitus. So entsteht ein Teufelskreis, bei dem das ständige Bewusstsein für die Ohrgeräusche und deren negative Bewertung die Symptome weiter verstärken. Der Tinnitus kann nicht mehr einfach als „Hintergrundgeräusch“ ausgeblendet werden, sondern wird als bedrohlich wahrgenommen.
Viele Tinnitusbetroffene leiden zusätzlich an einer psychischen Erkrankung, z. B. einer posttraumatischen Belastungsstörung. Außerdem können eine Depression oder Angststörungen die Belastung durch einen Tinnitus verstärken und dazu führen, dass diese Personen sich für ein Ohrgeräusch Hilfe suchen, das sie vorher ignorieren konnten.
Wichtig ist den Autoren zufolge in jedem Fall eine angemessene und wertschätzende Kommunikation, denn der Beginn eines Tinnitus kann selbst starken Stress auslösen. Betroffene berichten häufig, dass die Diagnose und die fehlende Aussicht auf Heilung ein Schock für sie war und sie sich von Ärztinnen und Ärzten mit dem Management der Erkrankung allein gelassen fühlten. In manchen Fällen führte die Belastung sogar zu suizidalen Gedanken.
Kognitive Verhaltenstherapie verbessert Copingstrategien
In der Behandlung von Tinnitus geht es daher auch darum, die Erkrankten darin zu unterstützen, ihre Stressreaktionen abzumildern. Indem die Patientinnen und Patienten lernen, besser mit belastenden Ereignissen und Lebensphasen umzugehen, ließen sich – vor dem Hintergrund der vermuteten Zusammenhänge zwischen Stress und Tinnitus – auch die Beschwerden durch den Tinnitus lindern, so die Autoren. Die kognitive Verhaltenstherapie hat u. a. das Ziel, die Copingstrategien der Betroffenen zu verbessern, etwa durch die Reduktion negativer Denkmuster. Entspannungsverfahren wie progressive Muskelentspannung können ebenfalls helfen, die Wahrnehmung des Tinnitus zu verändern.
Quelle: McKenna L, Vogt F. HNO 2024; doi: 10.1007/s00106-024-01501-3