SARS-CoV-2 Mehr als nur müde

Autor: Dr. Melanie Söchtig

Durch ein vorausschauendes Energiemanagement (sog. Pacing) lässt sich die dauerhafte Verschlechterung des Allgemeinzustandes und der Lebensqualität entgegenwirken. Durch ein vorausschauendes Energiemanagement (sog. Pacing) lässt sich die dauerhafte Verschlechterung des Allgemeinzustandes und der Lebensqualität entgegenwirken. © BlackJack3D/gettyimages

Etliche Patienten leiden noch Monate nach einer Coronavirusinfektion unter extremer Erschöpfung und Belastungsintoleranz. In vielen Fällen dürfte die Diagnose Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom zutreffen. Welche Kriterien sind dafür ausschlaggebend und wie kann den Betroffenen geholfen werden?

Schätzungen zufolge erfüllt rund jeder fünfte Long-COVID-Fall die Diagnosekriterien der Myalgischen Enzephalomyelitis bzw. des Chronischen Fatigue-Syndroms (ME/CFS). Deshalb rechnen Experten damit, dass sich die Anzahl der von ME/CFS Betroffenen in den nächsten Jahren mindestens verdoppeln wird.

ME/CFS wird in den meisten Fällen durch eine virale Infektion induziert. Aber auch Infektionen mit Bakterien, Pilzen oder Protozoen, Operationen, Halswirbelsäulen- oder Schädel-Hirn-Traumata sowie einschneidende psychische Stresssituationen kommen als Auslöser infrage. Es wird davon ausgegangen, dass es sich bei ME/CFS um eine Multisystemerkrankung mit Dysregulation des Immunsystems, des autonomen Nervensystems, des Gefäßsystems und des zellulären Energiestoffwechsels handelt. In der Regel persistiert die Erkrankung ein Leben lang, schreiben Dr. Herbert Renz-Polster aus Vogt und Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen vom Charité Fatigue Centrum der Charité – Universitätsmedizin Berlin.

Vorübergehende Fatigue nach Infektionen häufig

Um die Diagnose eines ME/CFS (ICD-10-Ziffer G93.3) stellen zu können, muss die Fatigue bereits seit mindestens sechs Monaten bzw. bei Kindern und Jugendlichen seit mindestens drei Monaten anhaltend sowie ohne Besserungstendenz bestehen. Dadurch unterscheidet sich die Erkrankung von der transienten postinfektiösen Fatigue, die häufig nach akuten Infektionskrankheiten auftritt.

Fatigue ist ein Symptom, das oft auch bei anderen häufigen Erkrankungen wie Fibromyalgiesyndrom, chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen oder Depression auftritt. Die ME/CFS ist jedoch ein eigenständiges Krankheitsbild, das von der chronischen Fatigue als Symptom abzugrenzen ist. Dies gelingt durch den Nachweis einer Belastungsintoleranz (post-exertional malaise; PEM) als Kernsymptomatik der ME/CFS.

Die PEM wird definiert als Verschlechterung der Beschwerden nach (auch leichter) Alltagsanstrengung, die meist erst nach mehreren Stunden oder am Folgetag einsetzt, mindestens 14 Stunden nach der Belastung noch spürbar ist und oft mehrere Tage bis Wochen anhält. Ein validierter Fragebogen (DePaul Symptom Questionnaire) hilft bei der Erfassung einer PEM.

ME/CFS nach den kanadischen Konsensuskriterien

Für die Diagnose müssen mindestens fünf Haupt- und zwei Nebenkriterien über sechs bzw. drei (Pädiatrie) Monate bestehen.

Hauptkriterien:

  • Fatigue
  • Zustandsverschlechterung nach Belastung
  • Schlafstörungen
  • Schmerzen
  • neurologische/kognitive Dysfunktion

Nebenkriterien:

  • autonome Dysfunktion
  • neuroendokrine Dysfunktion
  • Immundysregulation

Vielfältige Symptome – von kognitiv bis immunologisch

Weitere typische ME/CFS-Symptome sind neurokognitive Beschwerden (z.B. „brain fog“, Reizüberempfindlichkeit), Schlafstörungen, Kopf-, Muskel- und/oder Gelenkschmerzen. Auch Zeichen einer autonomen Dysfunktion bzw. einer orthostatischen Intoleranz, neuroendokrine Störungen sowie Zeichen der Immundysregulation können auftreten.

Die sog. kanadischen Konsensuskriterien haben sich für die Diagnosestellung bei Verdacht auf ME/CFS etabliert (s. Kasten). Zum Ausschluss wichtiger Differenzialdiagnosen und zur Therapieplanung ist eine sorgfältige Stufendiagnostik nötig. Folgende weiterführende Untersuchungen sind sinnvoll:

  • immunologische bzw. rheumatologische Diagnostik: Screening auf Antikörper gegen extrahierbare nukleäre Antigene (ENA) und auf Anti-DNS-Antikörper; Ausschluss eines Sjögren-Syndroms bei Sicca-Symptomatik
  • neurologische Diagnostik: erweiterte neurologische Abklärung bei auffälligen Befunden (z.B. Parästhesien, Sensibilitätsstörungen, Muskelzucken, „restless legs“, kognitive Einschränkungen); Abklärung eines hypermobilen Ehlers-Danlos-Syndroms bei Gelenkhypermobilität
  • Abklärung von orthostatischer Intoleranz: Diagnostik zu orthostatischer Hypotonie und post­uralem Tachykardiesyndrom (POTS) mittels angelehntem Zehn-Minuten-Stehtest („NASA lean test“)
  • Abklärung einer Schlafstörung: Schlaflabordiagnostik bei sehr ungewöhnlichem Schlafmuster oder Verdacht auf eine obstruktive Schlafapnoe
  • Abklärung von Infektionen: gezielte Infektionsanamnese; ggf. PCR-Untersuchung (HSV-1, HSV-2, Varizella zoster); Abklärung einer Infektion mit Enteroviren bei Meningitis oder Myokarditis; ggf. Abklärung von Q-Fieber

Bislang steht keine kausale Therapie für ME/CFS zur Verfügung. Der Fokus liegt daher auf der Linderung der Beschwerden und der Therapie von Begleiterkrankungen nach den entsprechenden Leitlinien. Typische Komorbiditäten sind die orthostatische Hypotonie, das posturale Tachykardiesyndrom, die Hashimoto-Thyreoiditis, die Fibromyalgie oder ein hypermobiles Ehlers-Danlos-Syndrom. Darüber hinaus sollten auch Schmerzen und Schlafstörungen therapeutisch angegangen werden. Bei Vorliegen einer depressiven Verstimmung ist eine Psychotherapie angezeigt.

Pacing verbessert die Lebensqualität

Eine Exazerbation der Symptome nach Belastung kann eine dauerhafte Verschlechterung des Allgemeinzustandes und der Lebensqualität der Betroffenen nach sich ziehen. Durch ein vorausschauendes Energiemanagement (sog. Pacing) lässt sich dem entgegenwirken. Patienten sollten dahingehend beraten werden, dass sie ihre Belastungsgrenzen nicht überschreiten sowie ausreichend Ruhepausen und Schlaf einplanen. Hilfreich ist dabei ein Aktivitäts- und Symptomtagebuch, eventuell auch mithilfe von Wearables zur Messung von Parametern wie Herzfrequenz(-variabilität), Schrittzahl oder Schlaf­indikatoren.

Quelle: Renz-Polster H, Scheibenbogen C. Inn Med 2022; 63: 830-839; DOI: 10.1007/s00108-022-01369-x