Neue Brustkrebs-Medikamente sichern Lebensqualität
Das Brustzentrum im Universitätsklinikum Münster, Turm West, Level 05. Hier wird hart um das Leben gekämpft, jeden Tag aufs Neue. Es ist kurz nach 10 Uhr. Ein Taxi hält am Haupteingang, eine sommerlich gekleidete Frau im kurzen roten Rock und luftigen Sandalen steigt aus dem Wagen. Für die wenigen Schritte zum Brustzentrum benötigt sie einen Rollator. Anna, 57 Jahre alt, macht diese Tour alle vier Wochen, ihr Wohnort liegt 50 Kilometer weit entfernt. Für sie ist der heutige Termin inzwischen Routine.
Es war der 2. Januar, als sich das Leben der Büroleiterin einer Rechtsanwaltskanzlei komplett auf den Kopf stellte. Anna war wegen anhaltender Rückenschmerzen in ärztlicher Behandlung. Eine MRT-Untersuchung sollte klären, ob ein Bandscheibenvorfall der Grund für die Beschwerden war. Als der Radiologe die Bilder sah, schickte er sie sofort zurück zum Hausarzt. Der kam gleich zum Punkt: „Da sind mehrere Metastasen in Ihrer Wirbelsäule“, sagte der Mediziner. Die erschütternde Diagnose: Hormonrezeptor-positives, HER2-negatives metastasiertes Mammakarzinom. Der Brustkrebs hatte also auch schon andere Körperregionen befallen. Bevor Anna viel nachfragen konnte, kam schon der zweite Schock: „Falls wir nichts tun, haben Sie noch vier Wochen zu leben. Wenn wir etwas tun, dann vielleicht noch ein halbes Jahr.“ Anna wollte sofort etwas tun.
Im Brustzentrum Münster entschied man sich gemeinsam mit der neuen Patientin gegen eine „klassische“ Chemotherapie, weil es für diese Form des Brustkrebs inzwischen eine Alternative gibt: die Erstbehandlung mit CDK4/6-Inhibitoren. Laienhaft gesprochen wirken diese Hemmstoffe wie Bremsen auf die außer Kontrolle geratene Teilung der Brustkrebszellen.
„Eine Chemotherapie wirkt nach dem Gießkannenprinzip. Die neuen Therapien mit den CDK4/6-Hemmern sind viel zielgerichteter“, sagt Dr. Joke Tio, Leiterin des Brustzentrums Münster. In Kombination mit anderen Medikamenten verzögern sie das Fortschreiten der Erkrankung im Mittel um mehr als zwei Jahre, in denen die Patientinnen aufgrund eines günstigen Nebenwirkungsprofils fast immer wie gewohnt ihren Alltag ohne Einschränkungen bewältigen können. „Gerade bei einer Mutter, die für ihre Kinder da sein will, macht diese hohe Lebensqualität einen großen Unterschied zur Chemotherapie aus“, so die Ärztin.
Bei Anna schlägt die gewählte Kombinationstherapie gut an. „Ich habe keine Schmerzen, auch sonst kaum Nebenwirkungen. Ich fühle mich nicht krank“, so die Patientin. Zuhause klappt es mit dem Gehen auch viel besser, da steht der Rollator inzwischen im Keller. Draußen benutzt sie einen zweiten, um sich sicher zu bewegen. Falls andere sie fragen, rückt sich nicht mit der Wahrheit heraus. „Ich sage immer, ich habe irgendwas mit dem Rücken. Wenn ich von meinem Krebs erzählen würde, hätte ich Angst, dass ich es am Ende bin, der meine Freunde trösten müsste. Das will ich nicht!“
Der Krebs hat sich in ihr Leben geschlichen und sich breit gemacht. Aber Anna lässt sich davon nicht unterkriegen. „Aufgeben? Das war noch nie mein Ding.“ Über acht Monate hat sie jetzt geschafft. Was hat sich seitdem geändert? „Ich bin gelassener geworden. Was soll mich denn jetzt noch schocken?“ Ihr nächstes Ziel: „Ich will irgendwann wieder arbeiten gehen“, sagt sie. Und schiebt leise hinterher: „Aber ich mache mir da auch nichts vor.“
Saskia war 28 Jahre alt, als sie Brustkrebs bekam. Der Tumor wurde entfernt, heute ist sie 35. Fünf Jahre war sie frei von Krebs, dann schlug ein Tumormarker bei einer Routineuntersuchung an. Der Brustkrebs war zurückgekehrt und hatte gestreut, Metastasen auch an den Knochen gebildet.
Auch Saskia ist an diesem Tag im Brustzentrum Münster zur Untersuchung. Im Gespräch wirkt die Werbekauffrau sehr selbstreflektiert und aufgeräumt. Neben „die Krankheit ist ein Teil von mir“ sagt sie aber auch solche Sätze: „Warum ich? Warum musste das ausgerechnet mir passieren?“
Sie versucht auch gleich eine Antwort zu geben. „Stress im Job, ungesundes Essen. Sehr wahrscheinlich habe ich die Symptome übersehen.“ Saskia hat ihre Ernährung komplett umgestellt. Vieles isst sie ohne Zucker, wenig Kohlenhydrate, am liebsten Rohkost. „Man kann auch krank werden, wenn Körper und Seele nicht im Einklang sind.“ Das ist eine ihrer Erklärungen.
Auch sie verträgt die Therapie mit dem CDK4/6-Inhibitor, den die Ärzte für sie ausgewählt haben, gut. An 21 Tagen nimmt sie eine Tablette, dann setzt sie sieben Tage aus. „Bei meiner ersten Erkrankung hatte ich eine Chemotherapie, das macht deinen Körper völlig fertig. Das wollte ich nicht noch einmal. Ich bin froh, dass es jetzt diese Alternative gibt“, sagt die Patientin.
Saskia versucht ihren Alltag so normal wie möglich zu gestalten. Nordic Walking gehört dazu, auch Schwimmen, ihre große Leidenschaft. „Das geht gut, nach außen sehe ich ja nicht krank aus.“ Hat sie jemals daran gedacht, mit dem Arbeiten aufzuhören? „Kurz, ja. Aber ganz ehrlich, es ist auch nicht so einfach: Die Arbeit ernährt mich schließlich.“ Die Familie ist ein großer Rückhalt, auch ihr Chef zieht mit. Er hat Saskia jetzt sogar einen Firmencomputer zu Hause eingerichtet.
Und jetzt arbeitet sie an ihrem großen Traum: Eine Tour zu Europas nördlichstem Punkt. Das weit jenseits des Polarkreises gelegene Nordkap reizt sie mit arktischen Abenteuern wie Hundeschlittenfahren im Winter oder der nicht untergehenden Sonne im Sommer. „Da spare ich jetzt drauf, das will ich im nächsten Jahr erleben“, erklärt Saskia. Die Chancen für die Abenteuerreise stehen gut. Denn eine Studie zu „ihrem“ CDK4/6-Hemmer bestätigt, dass nur bei wenigen Frauen schwerwiegende Nebenwirkungen auftreten.
Was die kommenden Monate angeht, sind Anne, Saskia und Dr. Joke Tio zuversichtlich. In vier Wochen werden sie sich im Brustzentrum Münster wiedersehen. Sie werden weiterkämpfen.