Extremereignisse Nicht zu schnell von Traumatisierung sprechen
Die Wahrscheinlichkeit, irgendwann im Laufe des Lebens eine extrem bedrohliche oder schreckliche Ausnahmesituation zu erleben, liegt bei immerhin 70 %, erklärte Dr. Kathlen Priebe von der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus Berlin. Nach einem solchen Ereignis reagieren die Betroffenen oft mit akuten Belastungsreaktionen, die unterschiedlich stark ausgeprägt sein können. Dazu gehören körperliche Symptome wie Herzrasen, Zittern, Schweißausbrüche, Weinen oder Unruhe, aber auch kognitive Veränderungen wie einer Bewusstseinseinengung („Tunnelblick“), Desorientierung sowie Konzentrations- und Gedächtnisstörungen. Auf Gefühlsebene umfassen die Reaktionen emotional Taubheit oder Dissoziation, Angst, Gereiztheit, Wut und Niedergeschlagenheit – oder Stimmungsschwankungen.
„All dies sind völlig normale Reaktionen auf ein außergewöhnliches Ereignis“, betonte die Psychotherapeutin. Da die meisten Menschen in Ausnahmesituationen so reagieren, wurde auch der Begriff „akute Belastungsstörung“ aus dem ICD-System gestrichen. Den Betroffenen sollte ebenfalls vermittelt werden, dass es sich bei solchen Symptomen direkt nach einem traumatischen Erlebnis keinesfalls um eine Störung handelt, sondern um eine übliche Reaktion.
In der Regel klingen die Symptome innerhalb der ersten Stunden und Tage ab, die meisten Betroffenen entwickeln also keine psychische Störung. Zu einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) kommt es nur bei etwa 4 % der Menschen, die eine potenziell traumatisierende Erfahrung machen. Am höchsten ist der Anteil nach dem Erleben einer Vergewaltigung (19,0 %) und körperlicher Gewalt in der Partnerschaft (11,7 %), am geringsten nach Autounfällen (2,6 %) und Naturkatastrophen (0,3 %).
Die Diagnose einer PTBS kann frühestens vier Wochen nach dem Ereignis gestellt werden. In den ersten zwei bis drei Monaten ist die Wahrscheinlichkeit für eine Spontanremission noch relativ hoch. Bei chronifiziertem Verlauf dagegen können die Symptome viele Jahre anhalten. „Die Zeit heilt nicht alle Wunden“, stellte die Referentin klar.
Risikofaktoren für die Entwicklung einer PTBS sind weibliches Geschlecht, frühere Traumata, psychische Vorerkrankungen und ein geringer IQ. Auch eine genetische Prädisposition scheint es zu geben. Traumabedingte Faktoren wie direkte Todesangst, zwischenmenschliche Gewalt und körperliche Verletzung sowie eine geringe soziale Unterstützung nach dem Trauma spielen ebenfalls eine Rolle.
Wie kann man nun Menschen in den ersten Stunden und Tagen nach einem extremen und potenziell lebensbedrohlichen Ereignis am besten unterstützen? Eine Akutintervention in Form eines strukturierten „Debriefings“ in den ersten 48–72 Stunden hat sich in einer Studie als eher kontraproduktiv erwiesen. Die Nachuntersuchung zeigte drei Jahre später eine höhere Belastung bei den Empfängern dieser Intervention.
Trotzdem muss man natürlich in den ersten Stunden nach einem Trauma „psychologische erste Hilfe“ anbieten, so Dr. Priebe. Dabei sollten aber die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen im Vordergrund stehen – und da diese sehr unterschiedlich ausfallen können, muss man danach fragen. Hilfreich in der Akutsituation ist es, den Opfern bzw. Zeugen des Ereignisses zu vermitteln, dass sie in Sicherheit sind und die Bedrohung vorbei ist. Auch nach körperlichen Bedürfnissen wie Essen, Trinken, Toilettengang oder einer wärmenden Decke sollte man fragen. Praktische Hilfe, die man anbieten kann, umfasst etwa die Information von Angehörigen und nahestehenden Personen, die Organisation von Kinderbetreuung oder einer Heimfahrt per Taxi.
Weinen Menschen, wäre es verkehrt, sie darin stoppen zu wollen. Eher hilft es zu vermitteln, dass diese Reaktion völlig in Ordnung ist. Keinesfalls solle man Patienten auffordern, über das Erlebte zu reden, erklärte die Psychotherapeutin. Wenn Menschen von sich aus darüber zu sprechen beginnen, gilt es aktiv zuzuhören, Nachfragen zur Vertiefung der Schilderungen verbieten sich jedoch. „Zusammengefasst: aushalten, begleiten, trösten – einfach menschlich sein“, sagte Dr. Priebe.
Nach der Akutphase von drei Tagen erfolgt über drei Monate am besten ein „Watchful Waiting“. Hier stehen Psychoedukation, die Organisation sozialer Unterstützung und die Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse durch die Betroffenen im Vordergrund. Ausreichend Sport und Schlaf etwa helfen dabei, die physiologische Übererregung zu reduzieren. Erst wenn nach dieser Phase noch Symptome bestehen, kommt eine spezifische psychotherapeutische Behandlung infrage.
Quelle: 40. Jahrestagung NeuroIntensiv-Medizin