IQ-Minderung, Infertilität, Krebs Petrochemikalien beeinträchtigen endokrine Funktionen
Mindestens 1,8 Millionen Menschen pro Jahr sterben Schätzungen zufolge aufgrund von chemischer Verschmutzung. Wahrscheinlich sind es sogar noch mehr, schreibt Prof. Dr. Tracey Woodruff, University of California, San Francisco. Denn von den etwa 350.000 für den Gebrauch registrierten chemischen Verbindungen sind bisher weniger als 5 % auf mögliche Gesundheitsrisiken hin untersucht worden. Die wenigsten Länder verlangen solche Studien oder schränken gar die Nutzung der Stoffe aus medizinischen Gründen ein. Besonders durch Petrochemikalien gefährdet sind Menschen in ärmeren Ländern, in denen die Exposition gegenüber diesen Stoffen hoch ist. Dort sollen mehr als 90 % der Todesfälle mit chemischer Verschmutzung assoziiert sein.
Medizinische Gesellschaften warnen schon länger davor, dass die Exposition gegenüber Petrochemikalien zu einem wichtigen Risikofaktor vieler Krankheiten geworden ist. Ungeachtet dessen haben der Verbrauch fossiler Brennstoffe und die Produktion von Petrochemikalien erheblich zugenommen: Sie sind im Vergleich zu den 1950er-Jahren um den Faktor 15 gestiegen.
Petrochemikalien sammeln sich in Luft, Wasser und Böden
Derzeit werden 12 % der globalen Erdölförderung für die Produktion von Petrochemikalien verwendet. Und dieser Anteil wird ebenso wie die Produktion von Plastikprodukten weiter zunehmen. Herstellung, Verteilung und Entsorgung von Kunststoffen und anderen Materialien führen dazu, dass immer mehr Petrochemikalien in die Luft, in Nahrungsmittel, Trinkwasser und Böden gelangen und in einem fortwährenden Kreislauf zirkulieren.
Doch viele Petrochemikalien interferieren mit hormonellen Funktionen. Man bezeichnet sie deshalb als endokrine Disruptoren. Die Effekte beruhen auf multiplen Mechanismen: Sie reichen von der Interaktion mit Hormonrezeptoren und Störungen von Hormonsynthese- und zirkulation bis zu epigenetischen Veränderungen. Als Folgen drohen negative Effekte auf die Fertilität, metabolische Erkrankungen wie Diabetes, die Entwicklung von hormonabhängigen Tumoren und neurologische Entwicklungsstörungen oder ADHS. Besonders problematisch ist, dass schon niedrige Konzentrationen endokriner Disruptoren ausreichen, um diese Risiken zu erhöhen.
Was ist wo drin?
PFAS: Beschichtete Töpfe und Pfannen, Kosmetika, Menstruationsprodukte, Nahrungsmittelverpackungen, Trinkwasser
Ortho-Phthalate: Nahrungsmittel und Nahrungsmittelverpackungen, Kosmetika (insbesondere Düfte), PVC-Bodenbeläge
Flammschutzmittel: Kleidung, Möbel, Matratzen, Nagellack, Plastikprodukte
Bisphenole: Plastikprodukte (v.a. Wasserflaschen, Aufbewahrungsbehälter) Brillengläser, Thermopapier
Pestizide: Nahrungsmittel, Trinkwasser, Luft
Besonders hoch ist die Empfindlichkeit gegenüber diesen Substanzen während der embryonalen und fetalen Entwicklung. Eine systematische Analyse von Beobachtungsstudien zeigt, dass eine pränatale Exposition gegenüber polybromierte Diphenylether (PBDE), die als Flammschutzmittel eingesetzt werden, das Risiko für eine IQ-Minderung bei Kindern erhöht. Dies geschieht vermutlich über eine Senkung des Schilddrüsenhormonspiegels bei der Mutter.
Bisphenol-A-Alternativen sind ebenfalls schädlich
Bisphenole werden z.B. als Weichmacher in der Produktion von Wasserflaschen oder von Thermopapier eingesetzt. Der prominenteste Vertreter dieser Gruppe ist Bisphenol A (BPA). Schon in niedrigsten Dosen weist BPA immunotoxische und neurotoxische Effekte auf und kann die reproduktive Funktion des Ovars beeinträchtigen. Wegen seiner Toxizität wird BPA zwar in vielen Produkten heute nicht mehr verwendet. Doch Ersatzstoffe wie Bisphenol S oder F sind kaum weniger toxisch.
Besonders häufig in der Plastikproduktion eingesetzt werden per- und polyfluorierte Alkylverbindungen (PFAS). Sie finden sich in Nahrungsmittelverpackungen, Kochgeschirr, wasserresistenten Stoffen und Teppichen sowie Beschichtungen aller Art. Für PFAS konnte eine Assoziation mit fetaler Wachstumsretardierung, Dyslipidämie, verminderter Antikörperantwort gegen Vakzinen und Nierenkarzinomen gezeigt werden.
Phthalate machen Plastikmaterial haltbarer und biegsamer, werden aber auch als Duftstabilisatoren eingesetzt. Vertreter dieser Chemikalienklasse haben antiandrogene Effekte gezeigt, beeinträchtigen die männliche und weibliche Fertilität und steigern das Diabetesrisiko.
Es ist dringend notwendig, die Exposition gegenüber endokrinen Disruptoren zu begrenzen. Individuelle Vermeidungsmaßnahmen reichen jedoch nicht aus. Die Politik muss deshalb die Notwendigkeit von gesetzlichen Regelungen zur Überprüfung der Sicherheit von Petrochemikalien erkennen und aktiv werden. Ärzte können dazu beitragen, diesen Umdenkprozess zu beschleunigen.
Quelle: Woodruff TJ. N Engl J Med 2024; 390: 922-933; DOI: 10.1056/NEJMra2300476