Häusliche Gewalt Reaktion mit S.I.G.N.A.L.-Wirkung
Frauen und Mädchen sind am häufigsten häuslicher Gewalt ausgesetzt. 40 % von ihnen erleben hierzulande im Laufe ihres Lebens körperliche oder sexuelle Gewalt. Besonders oft eskaliert die Situation im Zusammenhang mit einer angekündigten oder vollzogenen Trennung, betont die Allgemeinmedizinerin Dr. Marlies Karsch-Völk aus München. Die Neigung zur Gewalt manifestiert sich unabhängig von Bildung, Kultur, Alter und Einkommen.
Viele Frauen scheuen sich aus Angst vor ihrem Partner, Hilfe zu suchen. Ein Besuch beim Hausarzt gibt ihnen eventuell die Gelegenheit dazu. Dafür muss sich dieser aber als Ansprechpartner zu erkennen geben (z.B. mit einem Flyer oder Poster) und auf Anzeichen achten.
Kontrolle statt Schläge
Scheinbar grundlose Praxisbesuche als Hilferuf
Verdacht auf körperliche Gewalt erwecken zum Beispiel wiederholte Verletzungen ohne passende Erklärung für die Ursache. Typisch sind Arm- und Rippenfrakturen sowie Verletzungen im Gesicht. Besondere Aufmerksamkeit verdienen auch Hämatome, Würgemale sowie Schürf-, Kratz- und Schnittwunden, ebenso Verbrennungen, fehlende Frontzähne und Zigarettenspuren. Mitunter verbirgt sich ein Hilferuf hinter chronischen Schmerzen oder einem häufigen Aufsuchen der Praxis ohne erkennbare Erkrankung. Auf sexuelle Gewalt können gynäkologische Störungen wie vaginale und anale Verletzungen, starke Blutungen, Menstruationsbeschwerden und Unterbauchschmerzen hinweisen. Wiederholte unerwünschte Schwangerschaften, sexuell übertragbare Infektionen und urologische Infekte sind ebenfalls eventuell die Folge von Übergriffen. Wenn Patientinnen derartige Symptome oder Befunde aufweisen, rät Dr. Karsch-Völk, gezielt nach Gewalterfahrungen zu fragen. Für das weitere Prozedere hat sich der S.I.G.N.A.L.-Leitfaden bewährt. Zusätzlich zur körperlichen Untersuchung sollten Sie unter Umständen Laboranalysen (z.B. Schwangerschaftstest, Urinstix, Entzündungsparameter) durchführen. Als wichtigstes Therapieziel nennt die Kollegin den Schutz vor weiterer Gewalt sowie die Minimierung körperlicher und seelischer Folgeschäden.S.I.G.N.A.L.-Leitfaden | |
---|---|
S | Signal setzen, Gewalterfahrungen ansprechen |
I | Interview mit konkreten Fragen (z.B. Kann es sein, dass Sie geschlagen wurden?) |
G | gründlich auf alte und neue Verletzungen untersuchen |
N | Notieren und Dokumentieren sämtlicher Befunde |
A | Abklärung von Gefährdung und Schutzbedürfnis |
L | Leitfaden (Notrufnummern, Unterstützung) anbieten |
Befunde gerichtssicher dokumentieren
Auf jeden Fall muss man Anamnese und Befunde gerichtssicher dokumentieren. Dies gilt auch, wenn die Patientin (noch) keine Anzeige erstatten will oder die Überweisung an eine rechtsmedizinische Einrichtung wegen der großen Entfernung nicht in Betracht kommt. Ein geeigneter Dokumentationsbogen zur häuslichen Gewalt findet sich zum Download im Internet . Er ermöglicht auch eine Dokumentation psychischer Befunde und eventueller Sexualdelikte. Die Verletzungen sollten genau beschrieben und in Körperskizzen eingetragen werden (z.B. Hämatomfarbe, Heilungsstadium, Narben). Die Größe der Läsionen und ihre Lagebeziehung zu anatomischen Strukturen sind exakt anzugeben (z.B. 2 cm unterhalb der linken Skapula). Die Autorin empfiehlt eine photographische Dokumentation mit Maßband sowie den Vermerk über eine etwaige Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Spurenträger wie blutige Kleidung asserviert man in einer Papiertüte oder einem Karton (nicht in Plastik). Für Patientinnen, die ein anonymes Gespräch wünschen und/oder in erster Linie Informationsbedarf haben, eignet sich eventuell eine telefonische Beratung. Über bundesweite Rufnummern mit 24-Stunden-Bereitschaft erhalten sie lokale Angebote. Frauen, die nicht sofort Anzeige erstatten möchten, sollten an ein rechtsmedizinisches Institut verwiesen werden. Die Untersuchung dort muss zeitnah erfolgen. Am besten wird der Kontakt samt Termin über die Praxis vermittelt. In den ersten drei Tagen nach einer Vergewaltigung empfiehlt die Autorin die Erstversorgung und Spurensicherung in einer gynäkologischen Klinik. Während der ersten 72 Stunden nach dem Übergriff lassen sich DNA-Spuren gewinnen. Eine etwaige HIV-Postexpositionsprophylaxe sollte ebenfalls in diesem Zeitraum beginnen. Innerhalb von fünf Tagen ist eine Notfallkontrazeption möglich.Hilfreiche Adressen
- bundesweites Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“: 08000 116 016
- Kinderschutzhotline: 0800 19 210 00
- Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe: www.frauennotrufe.de
- Dokumentationsbogen: www.aekno.de/fileadmin/user_upload/aekno/downloads/haus-gewalt-dokubogen.pdf
Quelle: Karsch-Völk M. ZFA 2022; 98: 13-17; DOI: 10.53180/zfa.2022.0013-0017