Zu Risiken und Nebenwirkungen… Rezeptfreie Medikamente werden oft verharmlost

Autor: Dr. Franziska Hainer

Eine Tablette hier, eine Kapsel da: Manche Patienten nehmen bis zu drei verschiedene OTC-Präparate am Tag ein. Eine Tablette hier, eine Kapsel da: Manche Patienten nehmen bis zu drei verschiedene OTC-Präparate am Tag ein. © kostikovanata – stock.adobe.com

Patienten wiegen sich mit rezeptfreien Medikamenten mitunter in falscher Sicherheit. Die niedrigschwellige Verfügbarkeit suggeriert ihnen, dass es sich um risikoarme Präparate handelt. Drei von vier Befragten schreiben den Medikamenten keine starke Wirkung zu. 

Die jährlichen Ausgaben für rezeptfreie Medikamente werden in Deutschland auf etwa sechs Milliarden Euro geschätzt, ca. 80 % davon entfallen auf die Selbstmedikation. Doch holen Patienten für ihre Selbstmedikation den u.a. in jeder Werbung geforderten medizinischen Rat bei Arzt und Apotheker ein? Laien erliegen oft dem Trugschluss, dass man für ein Medikament kein Rezept braucht, weil es nur schwach wirkt, problemlos genommen werden kann und/oder seine Nebenwirkungen kaum eine Rolle spielen, schreiben Dr. Julian Wangler und Prof. Dr. Michael Jansky von der Allgemeinmedizin an der Universität Mainz. Wie viele Menschen das betrifft, zeigt eine aktuelle Erhebung der Mainzer Uniklinik.

Zwischen 2021 und 2023 wurden zu dem Thema mittels Fragebögen 900 Personen in Hausarztpraxen und 611 Patienten in MVZ befragt. 65 % nutzten häufig oder gelegentlich frei verkäufliche Over-the-counter(OTC)-Produkte, die sie über Apotheken oder das Internet bezogen. Den größten Anteil machten NSAR und andere Schmerzmittel aus. 

46 % der Befragten gaben an, dass sie sich vor dem Kauf zur Anwendung der frei verkäuflichen Medikamente nicht beraten lassen. Auch zu Wirkungen oder den angemahnten „Risiken und Nebenwirkungen“ holen sie sich keine Informationen ein. 

Rezeptfreie Arzneimittel, um den Arzt zu umgehen

Der zusätzliche Aufwand, den ein Arztbesuch mit sich bringt, scheint in dieser Hinsicht eine große Rolle zu spielen. Etwa zwei Drittel der Befragten sind der Meinung, dass die Arzneimittel auch deshalb frei verkäuflich seien, um nicht wegen leichten Beschwerden zum Arzt gehen zu müssen. 

54 % lassen sich hingegen von ihrem Hausarzt und/oder Apotheker beraten. 56 % greifen bei Fragen zumindest auf die Packungsbeilage zurück. Zu den typischen Anlässen für die Selbstmedikation gehören aus Sicht der Anwender Erkältungsbeschwerden und grippale Symptome, Sonnenbrände, Insektenstiche, Verdauungsprobleme oder Kopfschmerz. Die OTC-Präparate ermöglichen den Patienten Selbstmanagement, und das schätzen sie, schreiben die Kollegen aus Mainz.

Tatsächlich kann die Selbstmedikation Eigenverantwortung und Unabhängigkeit der Patienten stärken, heißt es weiter. Zusätzlich entlastet sie das Gesundheitswesen, wenn Patienten sich selbst behandeln können – vorausgesetzt die Medikamente werden richtig angewendet. Es besteht aber die Gefahr, dass Laien Neben- und Wechselwirkungen unterschätzen oder Maximaldosierungen nicht einhalten – für mehr als zwei Drittel waren OTC-Präparate generell niedriger dosiert als rezeptpflichtige. Zudem ergab die Befragung, dass ein Drittel die OTC-Medikamente als weniger stark wirksam beurteilte und davon ausging, dass diese weniger Schäden verursachen. 

Die Attribute „unkompliziert“, „schonend“ und „gut verträglich“ erhielten frei verkäufliche Präparate sogar von fast jedem Zweiten. Für ebenso viele waren die Wirkungen und Nebenwirkungen aufgrund der langen Erprobung „gut bekannt und kalkulierbar“. Dieses Bild wird auch durch Werbung verstärkt. Minderjährige oder multimorbide Patienten sind eine vulnerable Gruppe und müssen vor riskanter Selbstmedikation geschützt werden. 

Immerhin 25 % der Befragten fanden, dass OTC-Präparate generell auch von Kindern genommen werden können. Hausärzten und Apothekern kommt aus Sicht der Autoren eine entscheidende Rolle zu. Sie sollten Patienten auf die Anwendung von OTC-Präparaten ansprechen – bei manchen sind dies mehr als drei pro Tag – und diese bei der Hausmedikation berücksichtigen.

Quelle: Wangler J, Jansky M. internistische praxis 2024; 67: 689-695