Unspezifische Beschwerden Rückenschmerz mit vielen Facetten
Die Aussage, dass mindestens 80 % aller Rückenschmerzen unspezifisch sind, könne heute so nicht mehr stehen bleiben. Dennoch geistert diese Zahl, die im Prinzip auf wenige ältere Quellen aus den 1960er- und 1990er-Jahren zurückzuführen ist, noch immer durch die aktuelle Literatur, berichtet Professor Dr. Stephan Klessinger, Neurochirurgie Biberach. In Publikationen wird sie offensichtlich immer wieder unreflektiert übernommen. Doch sei die Suche nach der Ursache von Rückenschmerzen klinisch durchaus relevant. Denn nur wo eine spezifische Schmerzquelle bekannt sei, könne auch spezifisch etwas dagegen unternommen werden.
Diagnostisch und therapeutisch hat sich in den letzten Jahrzehnten viel getan. Durch die Entwicklung der Computertomographie (CT) und vor allem der Magnetresonanztomographie (MRT) wurde eine Vielzahl von Pathologien an Bandscheiben und Gelenken erkennbar. Doch die gefundenen degenerativen Veränderungen zeigen häufig keine Korrelation mit der Schmerzsymptomatik der Patienten.
Auch in Kombination mit Anamnese und klinischer Untersuchung reicht die Bildgebung häufig nicht aus, um einen spezifische Schmerzgenerator zu identifizieren. Invasive Techniken helfen hier heute ein gutes Stück weiter. Wendet man sie konsequent an, lässt sich die Schmerzquelle plötzlich bei den meisten Patienten erkennen. Es sei deshalb an der Zeit, den diagnostischen Nihilismus zu beenden, so Professor Klessinger. Einen Schritt in diese Richtung habe 2017 die S2k-Leitlinie „Spezifischer Kreuzschmerz“ getan und u.a. morphologische Entitäten definiert, die potenziell ursächlich sein können.
Meniskoide beim Aufrichten im Rezessus eingeklemmt
Die Schmerzquellen manifestieren sich altersabhängig. Bei Menschen ab dem 55. Lebensjahr ist die häufigste spezifische Ursache für Rückenschmerzen in den Facettengelenken zu finden. Dreh- und Angelpunkt sind Gelenkkörper (Meniskoide), die sich beim Aufrichten aus vorgebeugtem Rumpf mit Rotation im Rezessus einklemmen können. Dadurch entsteht eine Kapseldehnung und ein akuter Schmerz („Hexenschuss“). Weder springt dabei ein Wirbel heraus, noch wird ein Nerv eingeklemmt, wie viele Patienten meinen. Auf den Schmerz reagiert die Muskulatur oft mit Kontraktion. Infolge dessen steigt der Druck im Gelenk und die Beschwerden verschlimmern sich. Deshalb können Wärme, Entspannung der Muskulatur und manualmedizinische Mobilisation bei akuter immobilisierender Lumbalgie hilfreich sein.
Facettengelenke werden auch dann stärker belastet und können sich degenerativ verändern, wenn sie z.B. nach einem Bandscheibenprolaps oder bei Osteochondrose näher aneinander rücken. Dies kann zu einem paramedianen nozizeptiven Schmerz führen, der in Richtung Gesäß, Oberschenkel oder Leiste ausstrahlt. Die Patienten geben häufig Anlaufschmerzen nach längerem Sitzen an und empfinden bei Rotation eine Schmerzverstärkung.
Doch weder die Anamnese noch irgendeine klinische Untersuchung sind beweisend für den Facettengelenkschmerz. Sichern lässt sich die Diagnose mit einer invasiven Technik, dem Medial Branch Block. Dabei wird ein Lokalanästhetikum unter bildgebender Kontrolle an den medialen Nervenast gebracht und blockiert so die Nervenäste, die das Gelenk versorgen. Nimmt der Gelenkschmerz dadurch um mindestens 80 % ab und kann dies mit einem zweiten Block reproduziert werden, gilt ein Facettengelenkschmerz als gesichert. Therapeutisch kann sich eine Radiofrequenzdenervation anschließen, mit der der Medial Branch koaguliert wird. Bei optimaler Technik verhilft dieser Eingriff mehr als der Hälfte der Patienten nach sechs Monaten zu Schmerzfreiheit.
Bei jungen Erwachsenen gehen Rückenschmerzen am häufigsten auf einen diskogenen Schmerz zurück. Denn die Bandscheiben sind innerviert und können deshalb per se wehtun, z.B. wenn die dorsalen Anteile stimuliert werden. Zu diagnostizieren ist ein diskogener Schmerz mittels Provokationsdiskographie. Maximal 3 ml Volumen werden in den Nukleus injiziert. Wenn damit der typische Schmerz zumindest in submaximaler Intensität provoziert werden kann, ist das Ergebnis positiv. Professor Klessinger hält diese Untersuchung bei entsprechender Indikation durchaus für sinnvoll, weil dadurch bei positivem Resultat die Ursachensuche beendet werden kann. Allerdings existiert bisher keine evidenzbasierte therapeutische Konsequenz.
Multimodale Therapie bei Chronifizierungsprozessen
Der Schmerz im Iliosakralgelenk (ISG) wird bei älteren Menschen meist degenerativ verursacht. Betroffene empfinden ihn über dem Gelenk mit und ohne Ausstrahlung. Anamnestisch ist der ISG-Schmerz schwer von anderen Ursachen abzugrenzen. Klinische Tests und Magnetresonanztomographie helfen auch oft nicht weiter. Doch kann man diagnostische und therapeutische Injektionen unter bildgebender Kontrolle durchführen, z.B. mit Lokalanästhetika, zur Therapie gerne kombiniert mit Steroiden. Die Evidenz ist allerdings moderat. Bei aller Suche nach spezifischen Ursachen darf man jedoch Chronifizierungsprozesse nicht übersehen, die mit multimodalen Therapiekonzepten angegangen werden sollten.
Quelle: Klessinger S. Schmerzmedizin 2021; 37: 22-30