Mit Speisekarte und Stoppsignal Trotz Endometriose guten Sex haben
Schmerzen beim Ausleben ihrer Sexualität erleben etwa 50 % der Frauen mit Endometriose. Die Beschwerden sind nicht an die Penetration gebunden, sondern machen sich häufig auch bei sexueller Erregung oder durch orgasmusbedingte Kontraktionen bemerkbar, erklärte die Psychologin Prof. Dr. Kathrin Kirchheiner von der Universitätsklinik für Radioonkologie an der Medizinischen Universität Wien. Dort leitet sie die „Sprechstunde Beziehung und Sexualität“.
Pathophysiologisch können eine mechanische Reizung von Endometrioseherden, Vernarbungen und Verwachsungen, in der Beweglichkeit eingeschränkte Organe und ein hypertoner Beckenboden hinter den Schmerzen stecken. Der chronisch überspannte Beckenboden macht den Vaginalkanal noch enger und verhindert eine ausreichende Lubrikation der Scheide, sagte die Expertin. Schmerzerwartung und Schonhaltung verstärken die Verspannungen weiter.
Sex, Intimität und Nähe werden komplett gemieden
Häufige Folge des Schmerzerlebens ist eine deutliche Reduktion oder sogar ein anhaltender Verlust der Libido. In der Konsequenz lehnen manche Frauen sexuelle Kontakte kategorisch ab und vermeiden sogar Intimität und Nähe. Andere ertragen ihrem Partner bzw. ihrer Partnerin zuliebe den Geschlechtsverkehr, was zu weiteren Verletzungen, zu Anspannung, Konditionierung und noch stärkeren Schmerzen führen kann.
Sexualität ist allerdings viel mehr als Geschlechtsverkehr, betonte Prof. Kirchheiner. Sie umfasst lebenswichtige Dimensionen des Menschseins und des Wohlbefindens, u. a. emotionale Nähe, Wärme, Zärtlichkeit, Geborgenheit, Lachen und Berührungen. Die Expertin rät deshalb ihren Patientinnen, bestimmte Zeiten für Intimität und körperliche Nähe mit dem Partner bzw. der Partnerin zu vereinbaren. Dabei müsse klar sein, dass es dabei um Genuss gehe und nicht um das Ziel, penetrativen Geschlechtsverkehr und einen Orgasmus zu erleben. Der Schlüssel zum unverkrampften Erleben ist oft die Absichtslosigkeit, erklärte die Psychologin.
Als völlig falsch bewertete sie die verbreitete Annahme, nur spontaner Sex sei guter Sex. Guter Sex könne auch geplant werden. Sie rät ihren Endometriosepatientinnen, zyklusabhängig ihre „Date Nights“ im Voraus festzulegen und sich auf das Ereignis wirklich vorzubereiten: gezielt ein Schmerzmittel einnehmen, Dehnung,- Lockerungs- und Entspannungsübungen durchführen, für muskuläre Entspannung durch Massage, Stretching oder Muskelrelaxation nach Jacobson sorgen. Allerdings gibt es kein Konzept, das für alle Frauen mit Endometriose passt.
Der Genuss steht im Vordergrund
Sexuelles Zusammensein folgt meist einem starren Skript mit klarem Ziel: umarmen, küssen, sich gegenseitig ausziehen, intim streicheln, Geschlechtsverkehr, Orgasmus. Dies birgt die Gefahr, dass eine Frau, der die Penetration Schmerzen bereitet, schon bei einer Umarmung die Reißleine zieht und „nein danke“ sagt. In der Sexualtherapie muss man die festgelegten Abläufe durchbrechen und den Genuss in den Mittelpunkt rücken, betonte Prof. Kirchheiner. Dies kann gelingen, wenn Paare ihre individuellen Wünsche berücksichtigen und wie auf einer Speisekarte auswählen, worauf sie Lust haben: z. B. über die eigenen Wünsche sprechen, Erotikartikel miteinander ausprobieren, Haut an Haut kuscheln, sich selbst befriedigen, oralen oder penetrativen Sex haben. Dies erfordert Offenheit und Vertrauen in der Partnerschaft, aber auch Neugierde und Kreativität.
Achtsamkeitsbasierte Ansätze zielen darauf ab, dass die Patientin ihre Hypervigilanz, ihre Fixierung auf sich selbst und ihr Schmerzerleben überwindet, ihre Aufmerksamkeit wieder mehr nach Außen richtet und auf die verschiedenen Sinneswahrnehmungen fokussiert. Dies kann z. B. mit Genussübungen im Alltag, Sinnlichkeits- und Streichelübungen funktionieren. Zu Mindfulness und kognitiver Verhaltenstherapie gibt es vielversprechende Pilotstudien mit Vulvodyniepatientinnen. Die Methoden lassen sich nach Auffassung der Sexualtherapeutin aber auf andere chronische Schmerzzustände übertragen.
Mit Biofeedback den Beckenboden entspannen
Viele empfinden Wärmeanwendungen z. B. via Heizdecke als wohltuend. Eine junge Patientin von Prof. Kirchheiner trägt z. B. auch während der sexuellen Aktivität einen elektrischen Heizgürtel. Eine andere arbeitet mit Coolpacks. Mithilfe von Biofeedbackgeräten und Apps haben die Frauen im besten Fall gelernt, ihre hypertone Beckenbodenmuskulatur gezielt zu entspannen und auch die pelvine Durchblutung zu steigern.
Damit die Date Night ein Erfolg wird, braucht es aber nicht nur gute Vorbereitung, sondern auch eine partnerschaftliche Kommunikation ohne Scham sowie Vertrauen in den Partner bzw. die Partnerin. Sexuelle Handlungen sollten sich nicht schweigend entwickeln, sondern nach Absprache langsam und behutsam erfolgen. Für den Fall eines Schmerzdurchbruchs müssen klare Stoppsignale vereinbart sein und auch respektiert werden. Zudem sollte das Paar wissen, dass Schmerzen nicht zwingend Abbruch und Rückzug bedeuten, sondern „nur“ ein Umplanen, um auf anderem Weg Genuss und Befriedigung zu erreichen.
Als Hilfsmittel kommen zum einen Lubrikanzien auf Wasserbasis zum Einsatz. Sie sollten an das Milieu der Scheide angepasst sein (pH 3,8–4,5) und eine Teilchendichte von < 1.200 mOsm/kg aufweisen. Die meisten Gleitmittel erfüllen die WHO-Vorgaben nicht, da sie Parabene, Polyquaternium, Glycerin, Propylenglykol, L-Arginin, Petrolatum oder Paraffin enthalten, warnte Prof. Kirchheiner.
Tipps bei gestörter Libido
Prof. Kirchheiner hat ein Selbsthilfebuch für Frauen mit gestörter Libido geschrieben. Es ist zwar an Frauen mit Krebserkrankung adressiert. Die Tipps sind nach ihrer Aussage aber genauso für Endometriosepatientinnen hilfreich. Das Buch kann kostenlos in elf Sprachen heruntergeladen werden.
Hilfsmittel verhelfen zum erfüllten Sexleben
Als Gamechanger bezeichnete die Psychologin die sogenannten Pain Buffer. Das sind dehnbare Ringe aus weichem Silikon, die um die Peniswurzel gelegt werden, um die Eindringtiefe (bei vier Ringen um ca. 7 cm) mindern. Prof. Kirchheiner: „Das reduziert auch die Schmerzerwartung der Frauen und mindert allgemein den Disstress und die Anspannung.“
Und nicht zuletzt: Je nachdem, wo die Endometrioseherde sitzen, sind unterschiedliche Stellungen beim Sex günstiger. Diese kann die Frau auch mithilfe von Lagerungskissen (Keil-/Rampenpositionskissen) einnehmen.
Quelle: Deutscher Schmerzkongress 2024