„Was früher Hardcore war, ist heute Blümchensex“
In Japan zeichnet sich der Trend, den Dr. Heike Melzer in ihrer Münchner Privatpraxis für Paar- und Sexualtherapie beobachtet, besonders auffällig ab. Bis zu 44 % der Japaner haben mit 36 Jahren noch keinerlei sexuelle partnerschaftliche Erfahrungen gemacht. Dabei gilt der Inselstaat als Vorreiter in Sachen Sex und Technik. Japan ist das Land der Sexpuppen und Sexroboter, in dem Hochzeiten mit Comicfiguren und der virtuelle Akt mit Monstern immer beliebter werden. Die Zahl solcher „Unberührten“, die zwar theoretisch alles über Sex wissen, aber eben nicht praktisch, hat nach Erfahrung der Autorin auch hierzulande stark zugenommen.
Einen der wichtigsten Gründe dafür sieht sie in der digitalen Transformation. Im Internet stehen Pornos jederzeit und in großer Auswahl zur Verfügung, viele können den Filmen bereits im Kindesalter nicht widerstehen. Eine australische Studie zeigte, dass 49 % der befragten Studenten schon vor dem 13. Lebensjahr mit dem Konsum begonnen haben. 84 % der männlichen Studenten und 19 % der weiblichen schauten in einer anderen Umfrage mindestens einmal pro Woche entsprechende Videos.
Es werden immer stärkere sexuelle Reize nötig
Aktuell suchen etwa zehn Millionen Deutsche in den fünf größten Dating-Apps nach unverbindlichem Sex, schreibt Dr. Melzer. Zudem gebe es eine wachsende Anzahl von Promisken, „die sich ruh- und rastlos von einem sexuellen Happening zum nächsten ‚tindern‘“. Dazu kommen virtuelle 3D-Sex-Simulationsspiele mit Avataren und andere Ersatzbefriedigungen, die ihrer Einschätzung nach nicht ohne Folgen bleiben.
So treten erektile Dysfunktionen – lange Zeit ein Problem vorrangig älterer Männer – zunehmend bei Jüngeren auf. Wird im Kinsey Report von 1949 die Zahl der Betroffenen unter 30 Jahren noch auf 1 % beziffert, berichten manche Studien inzwischen von bis zu 30 %. Ähnliche sexuelle Funktionsstörungen lassen sich auch in Bezug auf den Libidoverlust beobachten. Die ständige Überstimulation per Smartphone und Sexspielzeug konditioniere die Konsumenten auf starke Reize, sodass Masturbation ohne Pornografie nur noch schwer oder gar nicht mehr möglich ist, schreibt die Autorin.
Sex mit Tieren und unter Gewalt zunehmend beliebter
Auch eine Verunsicherung in Bezug auf die eigene Attraktivität und einen überzogenen Leistungsdruck im Bett kann die virtuelle Sexualität bewirken. Zudem ist Dr. Melzer eine quantitative Veränderung sexueller Verhaltensweisen aufgefallen. Sie habe Klienten, die mit 25 Jahren schon mehr als 100 Sexualpartner hatten und über zehn Affären parallel managen. Diese obsessive Beschäftigung mit dem Thema Sex gleiche einer Sucht, mit Kontrollverlust und allen negativen Konsequenzen für Beruf, Sozialleben und Gesundheit.
Eine dritte Beobachtung der Kollegin betrifft die qualitative Veränderung sexueller Vorlieben. „Das was früher Hardcore war, ist heute Blümchensex“, schreibt Dr. Melzer. In der Folge seien Störungen wie Fetischismus, Voyeurismus und Sadomasochismus in der breiten Mitte der Bevölkerung angekommen. Zudem verschieben sich die Vorlieben immer mehr zum Extremen. Sex mit Tieren etwa oder Gewaltbeteiligung würden zunehmend beliebter.
Neu im ICD-11: zwanghaftes sexuelles Verhalten
In einer italienischen Studie berichten die Hälfte der befragten männlichen Studenten sowie 41,5 % der weiblichen über solches Verhalten. Die Autorin vermutet auch hinter diesen Mustern den Einfluss übermäßigen Pornokonsums, immerhin zeigte eine Analyse der Filme, dass in 88 % der Szenen körperliche Gewalt zu sehen sei.
Verwundert es dann, wenn feste Beziehungen unter den neuen Versuchungen leiden? Fremdgehen ist dank Dating-Apps so einfach wie nie zuvor. Zudem ist der eigene Partner oft nicht bereit, dem im Internet gezüchteten Verlangen nachzukommen. Dies und der zunehmende heimliche Pornokonsum scheinen viele Beziehungen zu destabilisieren. Für die Weltgesundheitsorganisation waren diese Entwicklungen ein Grund „zwanghaftes sexuelles Verhalten“ neu in den ICD-11-Katalog aufzunehmen. Dies sei ein wichtiger Meilenstein, so Dr. Melzer, damit Gesellschaft und Politik ihre Aufmerksamkeit vielleicht endlich auf dieses vernachlässigte Thema lenken.
Quelle: Melzer H. Nervenheilkunde 2019; 38: 759-764; DOI: 10.1055/a-0928-3056