Zwangsstörungen Waschzwang-Boom durch Corona?
Die Lebenszeitprävalenz von Zwangsstörungen lag vor Pandemiebeginn in der Allgemeinbevölkerung bei 2–3 %, subklinische Symptome zeigten etwa 20 % der Menschen, berichtete Prof. Dr. Lena Jelinek von der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. In einer aktuellen Studie erhob sie zusammen mit Kollegen die Häufigkeit von Zwangssymptomen in der ersten COVID-19-Welle und verglich sie mit früheren Daten.1 Im März 2020 hatten 2.255 Menschen ohne vorhergehende Diagnose einer Zwangsstörung den Fragebogen Obsessive Compulsory Inventory – Revised (OCI-R) ausgefüllt, 1.207 davon bearbeiteten den Bogen im Juni 2020 erneut. Für 837 Patienten waren auch OCI-R-Ergebnisse aus dem März 2014 verfügbar.
10 % entwickelten klinisch relevante Symptome
Zwei Drittel der Teilnehmer waren zu jedem der drei Zeitpunkte asymptomatisch, auch in der Pandemie, berichtete Prof. Jelinek. 18 % lagen bereits 2014 nach dem Symptomscore des OCI-R im Bereich einer klinisch relevanten Zwangsstörung (Wert > 16), wobei die Symptomlast in der Pandemie noch weiter anstieg. 6 % wiesen nur in der ersten Welle einen Symptomscore > 16 auf, der dann aber wieder in den subklinischen Bereich abfiel. 10 % entwickelten verzögert nach der ersten COVID-19-Welle klinisch relevante Zwangssymptome.
Insgesamt ergab sich ein leichter Anstieg von subklinischen oder klinischen Zwangssymptomen im frühen Pandemieverlauf von 24 % auf 28 %. Erste Hinweise aus einer erneuten Erhebung in 2021 weisen auf ein Fortbestehen der erhöhten Rate auch im zweiten Jahr der Pandemie hin. Es sei aber nicht zu einem weiteren Anstieg gekommen, erläuterte die klinische Psychologin.
In einer anderen Kohorte von 394 Menschen mit einer durch Fachpersonen gestellten Diagnose einer Zwangsstörung, davon 223 (57 %) mit Reinigungszwängen, war der Effekt der Pandemie deutlicher: 72 % berichteten von einer Symptomzunahme.2 Als Gründe gaben die Befragten unter anderem die verringerte Mobilität, die Verfügbarkeit von Hygieneprodukten und zwischenmenschliche Probleme an.
Unterbrochene Therapien als zusätzliche Belastung
Konfliktpotenzial bestand insbesondere, weil sich die Patienten mit Zwangsstörungen als kompetent im Bereich der Infektionsprävention empfanden, aber auf ihre Ratschläge hin negative Rückmeldungen ihrer Mitmenschen bekamen, erläuterte Prof. Jelinek.
179 Teilnehmer nahmen an der Nachbefragung teil, in deren Rahmen sich keine generelle Veränderung der Symptomschwere zeigte. Insbesondere die Situation der 104 Teilnehmer mit Waschzwängen schien aber erschwert, während die übrigen Teilnehmer eher eine Adaption zeigten, sagte Prof. Jelinek.
Die Befunde passen zu internationalen Ergebnissen, die auf eine Symptomzunahme während der Pandemie bei Patienten mit Zwangsstörungen hinweisen. Die Belastung in der ersten Phase der Pandemie wurde zusätzlich aggraviert durch das Aussetzen von Therapien und insbesondere der Expositionsbehandlungen, meinte Prof. Jelinek. Wichtig sei es daher, vulnerable Patientengruppen frühzeitig zu identifizieren und die Therapie auch in Pandemiezeiten sicherzustellen, zum Beispiel durch Online-Angebote.
Quelle: DGPPN* Kongress 2021
* Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V.
1. Jelinek et al. Translational Psychiatry 2021; 11: 323; DOI: 10.1038/s41398-021-01419-2
2. Jelinek L et al. J Anxiety Disord 2021; 77: 102329; DOI: 10.1016/j.janxdis.2020.102329