Weniger Lust, größere Füße: Verwirrende Symptomatik des Hypophysenadenoms
Ein Mann kommt in Ihre Praxis und klagt über zunehmende Müdigkeit. Er habe zu nichts mehr Lust, meint er. Die Routine-Laborwerte sind unauffällig und der Patient meint, dass er vermutlich, auch wegen seiner gerade laufenden Scheidung, einfach zu viel Stress habe.
Sie bleiben misstrauisch und untersuchen ihn – obwohl Sie auch gerade mit einem übervollen Wartezimmer ziemlich Stress haben – noch überblicksartig von Kopf bis Fuß, denn eigentlich neigt dieser Herr so gar nicht zum Jammern. Und siehe da: Beim orientierenden Check von Sehschärfe und Gesichtsfeld finden Sie eine bitemporale Hemianopsie. Jetzt schicken Sie ihn zügig zur MRT. Dort bestätigen die Aufnahmen Ihren Verdacht: Die Sehstörungen werden von einem Makroadenom der Hypophyse verursacht, weil es das Chiasma opticum komprimiert.
Jeder Tausendste hat einen derartigen Tumor
Hypophysenadenome kommen gar nicht mal so selten vor – Schätzungen gehen von einer Prävalenz von 1:1000 aus, erklären die Endokrinologin Dr. Aparna Pal vom Oxford Center for Diabetes, Endocrinology and Metabolism der Universitätskliniken Oxford und ihre Kollegen. Rein statistisch, befindet sich also auch in Ihrer Praxis mindestens ein Betroffener.
Endokrinologisch aktive Adenome produzieren Hormone und führen damit zu entsprechenden Symptomen.
So divers sind Hypophysenadenome | ||||
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Betroffene Zellen der Hypophyse | Produzierte Hormone | Spezifische Symptome | Untersuchungsbefunde | Labor |
Gonadotrope Zellen | FSH oder LH, aber oft in so geringen Mengen, dass sie klinisch als endokrin inaktiv gelten | Fatigue, erektile Dysfunktion, geringe Libido, Amenorrhö, Sehstörungen, Kopfschmerzen | Hemianopsie (ein- oder beidseitig) sowie Haarverlust und Gynäkomastie bei Männern | Testosteron (morgens) ↓, FSH/LH ↓ bzw. unzureichend, Prolaktin ↑, TSH und FT4 ↓, Cortisol (morgens) ↓ |
Laktotrope Zellen | Prolaktin | Erektile Dysfunktion, Oligo-/Amenorrhö | Galaktorrhö, Hemianopsie (ein-oder beidseitig) | Prolaktin ↑ |
Somatotrope Zellen | Somatotropin | Wachstum der Akren (z.B. plötzlich zunehmende Schuhgröße), Kopfschmerz, Schweißausbrüche | Vergröberte Gesichtszüge, große Nase, Prognathie, Makroglossie, häufig Befunde eines Karpaltunnelsyndroms | Insulin-like Growth Factor 1 ↑ |
Corticotrope Zellen (Cushing-Syndrom) | Adrenocorticotropes Hormon (ACTH) | Stimmungsstörungen, Gewichtszunahme vor allem am Körperstamm, Müdigkeit, Muskelschwäche (z.B. beim Treppensteigen) | „Vollmondgesicht“, proximale Myopathie, Striae rubrae, Pergamenthaut, anfällig für Blutergüsse, Zentral-Adipositas | Serum-Cortisol (morgens) geht im Dexamethason-Kurztest nicht < 50 nmol/l freies Cortisol im 24-Stunden-Urin ↑ Spätabendliches Cortisol in Serum und Speichel ↑ |
Thyreotrope Zellen | Thyreoidea-stimulierendes Hormon (TSH) | Thyrotoxizität, Palpitationen, Gewichtsverlust, Angstzustände, Schlaflosigkeit, Zyklusstörungen | Tachykardie, Tremor, Gesichtsfeldeinschränkungen | TSH normal bis ↑, freies T4 und T3 im Serum ↑ |
Alle Hypophysentumoren können auch ohne entsprechende Symptome, Anzeichen und Laborwerte auftreten bzw., wenn sie groß genug sind, unspezifische Symptome einer Raumforderung wie Sehstörungen und Kopfschmerzen verursachen. |
In diesem Fall fragen Sie zunächst gezielt nach anderen möglicherweise hormonell bedingten Beschwerden und achten auch bei der Untersuchung auf entsprechende Befunde. Danach empfiehlt sich die Bestimmung der passenden Hormonwerte, und ggf. sollten Sie den Patienten anschließend an einen Endokrinologen überweisen.
Endokrinologisch „stumme“ Geschwüre produzieren keine Hormone. Dadurch verursachen sie oft keine oder erst späte Beschwerden und fallen erst auf, wenn sie durch Verdrängungseffekte etwa Sehstörungen wie bei obigem Patienten oder ganz unspezifische Kopfschmerzen verursachen.
Allerdings kann es auch zu ganz akuten, schweren Kopfschmerzen, Sehstörungen und/oder Augenmuskellähmungen kommen – in diesem Fall müssen Sie den Patienten notfallmäßig ins Krankenhaus einweisen – er könnte einen Hypophysenapoplex erlitten haben, warnen die Fachleute. Dabei blutet es akut in das Adenom ein und die Hypophyse stellt von jetzt auf gleich ihre Arbeit ein.
Und damit es nicht zu einfach wird: Vor allem große, eigentlich inaktive Adenome können die gesunden Zellen der vorderen Hypophyse immer stärker zusammenquetschen – in diesem Fall tritt das genaue Gegenteil der Symptome eines aktiven Adenoms ein: Es droht eine teilweise oder sogar vollständige Hypophyseninsuffizienz.
Wenn die Diagnose Adenom gesichert ist – im Allgemeinen durch eine MRT –, kommt je nach Befunden eine medikamentöse Behandlung (z.B. Substitution) infrage, oder der Kollege aus der Neurochirurgie setzt eine transsphenoidale Resektion an, bei Zufallsfunden ohne Beschwerden ist auch ein abwartendes Verhalten möglich. Bei Prolaktinomen erfolgt die Therapie mit Dopaminagonisten.
Besorgte Patienten beruhigen: Die Prognose ist gut
Auf alle Fälle aber, so die Experten, können Sie den Patienten beruhigen. Auch wenn er, klinisch betrachtet, einen Hirntumor hat – er hat keinen Krebs, wie Betroffene oft befürchten, wenn man ihnen die Diagnose eröffnet: Die Adenome sind gutartig und lassen sich entweder vollständig entfernen oder medikamentös symptomatisch gut in den Griff bekommen.
Quelle: Pal A et al. BMJ 2019; 365: I2091; DOI: 10.1136/bmj.l2091