Interview Wie es gelingen kann, die Medizin umweltfreundlicher zu gestalten

Autor: Dr. Miriam Sonnet

Im Interview wird die Beziehung zwischen Umwelt und Mensch am Beispiel von Klima und Krebserkrankungen erörtert. Im Interview wird die Beziehung zwischen Umwelt und Mensch am Beispiel von Klima und Krebserkrankungen erörtert. © nito – stock.adobe.com

Umwelt und Mensch befinden sich in einer nicht voneinander trennbaren Beziehung. Das wird auch am Beispiel Klima und Krebserkrankungen deutlich. Prof. Dr. Andreas Neubauer und Dr. Susanne Balzer berichten im Interview über die Auswirkungen von Umweltbelastungen und -katastrophen auf den Menschen, den Impact des Gesundheitssektors auf das Klima und Maßnahmen für mehr Nachhaltigkeit in der Praxis.

Wie wirkt sich das Klima auf Krebserkrankungen aus?

Prof. Dr. Andreas Neubauer: Krebs ist immer das Ergebnis genetischer Veränderungen in einzelnen Zellen. Dabei werden über 90 % der Mutationen im Lauf des Lebens erworben – durch äußere Faktoren wie Rauchen oder eben das Klima. Ein Beispiel zum Zusammenhang zwischen Klima und Krebs, speziell zu Waldbränden, lieferte eine aktuelle Studie, die in JAMA Oncology publiziert wurde. Darin untersuchten Forschende die Korrelation zwischen Waldbränden und der Prognose von Lungenkrebspatient:innen, die sich nach einer Operation gerade in einer Reha befanden. Das Ergebnis: Die Waldbrände waren negativ mit dem Überleben der Erkrankten assoziiert.Darüber hinaus muss man wissen, dass Waldbrände kein lokales Phänomen sind. Durch Waldbrände wird generell die Exposition gegenüber freigesetztem Feinstaub mit einer nicht zu unterschätzenden kontinentalen Reichweite steigen. So verursachten beispielweise kalifornische Waldbrände im Jahr 2018 gesundheitsschädliche Expositionen an der US-Ostküste.

Das heißt: Klima und Schadstoffe in der Luft können Tumoren verursachen. Natürlich nicht so häufig wie andere Noxen wie Rauchen oder Alkohol, aber Schadstoffe in der Luft tragen definitiv zum Krebsrisiko bei. Die Exposition gegenüber langzeitbeständigen Karzinogenen wie Dioxin oder Benzen wird sich durch Extremwetterereignisse wie Überflutungen in Zukunft weiter erhöhen. 

Dr. Susanne Balzer: Unter anderem wirken sich Hitze und Luftverschmutzung auf immunkompromittierte Patient:innen stärker aus als auf gesunde Menschen. Was man zudem nicht außer Acht lassen darf: Die Versorgung und Nachsorge von Krebserkrankten, die direkt oder deren Einrichtungen von Umweltkatastrophen betroffen sind, wird disruptiert. Ein Beispiel ist die Ahrtal-Katastrophe: Es brauchte mehr als ein Vierteljahr, bis die Versorgung der Bevölkerung vor Ort wieder auf einem weitgehend normalen Niveau erfolgen konnte.

Gibt es Daten speziell zu Feinstaub? 

Prof. Neubauer: Zum Thema Feinstaub und Krebs liegen einige interessante aktuelle Publikationen vor. Beispielsweise erhoben Wissenschaftler:innen für eine aktuelle Studie, die in der Zeitschrift Nature veröffentlicht wurde, Daten zu Feinstaubbelastung und Krebs­erkrankungen. Die Kolleg:innen betrachteten hierbei Lungenkarzinome in einer Gruppe von Personen, die nie oder wenig geraucht haben. Diese Tumoren machen ca. 5 % aller Lungenkarzinome aus und stellen eine genomisch andere Entität dar als Lungenkrebs, der durch Rauchen verursacht wird. Oft war das EGFR-Gen mutiert – und zwar viel häufiger als in der Gruppe der Patient:innen mit durch Zigarettenrauch bedingten Tumoren. Die Autor:innen fanden heraus, dass Feinstaubbelastung mit EGFR-Mutationen korrelieren. 

In Laborversuchen beobachteten sie einen ähnlichen Zusammenhang: Belasteten sie die Mäuse mit Feinstaub, so entwickelten die Tiere Tumoren. Der wahrscheinliche Mechanismus dahinter: Feinstaub induziert eine Entzündungsreaktion, vermittelt über Interleukin-1-beta. Dieses entzündliche Milieu wiederum bewirkt, dass EGFR-mutierte Zellen viel schneller wachsen. ­EGFR-Mutationen befinden sich auch in normalem Lungengewebe. Atmen die Menschen dann Feinstaub ein, entarten diese Zellen schneller.

AG Gesundheit und Klima

Die AG Gesundheit und Klima der DGIM, der Prof. Neubauer und Dr. Balzer angehören, wurde 2022 ins Leben gerufen. Sie beschäftigt sich u.a. mit folgenden Fragestellungen:

  • Wo macht der Klimawandel krank?
  • Was sagt die Forschung?
  • Wie können wir uns klimafreundlicher verhalten?
  • Was können wir unseren ­Patienten und Patientinnen empfehlen?
  • Wo findet man Informations­material?

Umgekehrt wirkt sich der Gesundheitssektor negativ auf die Umwelt aus. Wie hoch sind die Treibhaus­gasemissionen deutscher Kliniken?

Dr. Balzer: Bisher besteht keine Verpflichtung zu einer standardisierten Bilanzierung von Treibhausgasemissionen im Gesundheitswesen und nur wenige Gesundheitseinrichtungen bilanzieren ihre Emissionen freiwillig. Die Nichtregierungsorganisation Health Care Without Harm veröffentlichte 2019 den health care climate footprint report. Das Ergebnis: Deutschland produziert 57,5 Millionen Tonnen „medizinisches Kohlendioxid“ jährlich. Das macht 5,2 % der deutschen Gesamtemissionen aus. 

Die deutsche Gesundheitsbranche sollte ihren ökologischen Fußabdruck dringend reduzieren, vor allem ihren enormen Energie- und Ressourcenverbrauch. Entsprechend hoch ist auch ihr Einsparpotenzial. Zum Vergleich: Der globale Gesundheitssektor verursacht mit 4,4 % der globalen Nettoemissionen mehr Treibhausgase als der Flugverkehr mit rund 3 %. Der globale Gesundheitssektor ist klimaschädlicher, als vielen bewusst ist.

Welchen Anteil an den Treibhaus­gasemissionen im Gesundheitssektor hat die Onkologie und gibt es ein Fachgebiet, das am umweltschädlichsten ist?

Dr. Balzer: Genaue Zahlen hierzu liegen nicht vor. Die Frage nach dem Fachgebiet mit den meisten Emissionen ist meines Erachtens aber nicht zielführend. Es spielt eher eine Rolle, welche Art von Medizin wir praktizieren und wo Emissionen und Umweltrisiken reduziert werden können. Primärprävention mit Aufklärung von Co-Benefits für die Gesundheit und das Klima sowie präzise, evidenzbasierte Medizin mit Vermeidung von Über- und Unterversorgung sind hier Stichpunkte, an denen wir arbeiten sollten. Die Identifikation von umweltschädlichen Praktiken oder Arzneien und die konsequente Fortbildung von Ärzt:innen zu diesem Thema sind wichtig. Diclofenac oder Paxlovid sind Beispiele von Arzneien, die ein beträchtliches Umweltrisiko nach sich ziehen und fachgerecht entsorgt werden müssen. 

Daten des Umweltbundesamtes deuten beispielsweise darauf hin, dass relevanter Umweltschutz erreicht werden kann, wenn Patient:innen nach Kontrastmittelgabe den Urin in einem Extrabehälter, der bereits kommerziell erhältlich ist, auffangen und dieser im Sondermüll entsorgt wird. Zurzeit finden sich Röntgenkontrastmittel und deren Abbauprodukte in Oberflächen- und sogar im Trinkwasser.

Welche diagnostischen Maßnahmen und Krebstherapien sind besonders umweltschädlich?

Prof. Neubauer: Generell sind Chemotherapien sicherlich als klima­belastend einzustufen, da sie oftmals einen sehr aufwendigen Herstellungsprozess durchlaufen. Der Trend in der Onkologie geht aber zurzeit mehr in Richtung zielgerichtete Behandlung, und vor allem die kleinen Kinase-Inhibitoren, die wir als Tabletten verordnen können, sind meines Wissens einfacher herzustellen.

In einer aktuellen Studie untersuchten Wissenschafler:innen den CO2-Fußabdruck von Phase-3-Studien in der Onkologie und anderen Bereichen der inneren Medizin. Ein Beispiel war ­ADRIATIC, in der Patientinnen und Patienten mit kleinzelligem Lungenkrebs Durvalumab und Tremelimumab, alleiniges Durvalumab oder Placebo erhielten. Drei Jahre der Studie entsprachen 1.638 Tonnen CO2-Ausstoß. Im Vergleich verursachte ­ADRIATIC den doppelten CO2-Ausstoß bei gleichen Arbeitsstunden wie die ebenfalls in der Publikation untersuchte Herzinsuffizienz-Studie.

Umfrage zu Klimaneutralität in Kliniken

Eine aktuelle Umfrage des BARMER-Reports „Klimaneutraler Gesundheitssektor“ ergab, dass zwei Drittel der befragten Kliniken sich mit Klimaneutralität  bereits beschäftigen oder diesen Punkt auf ihrer Agenda haben, ein Drittel aber nicht. 26 % erarbeiten Nachhaltigkeitsberichte und 30 % beziehen Energie aus nachhaltigen Quellen. 46 % der Befragten fordern regulatorische Rahmenbedingungen, 42 % sehen die Politik in der Verantwortung und 23 % der Kliniken nennen politische/rechtliche Rahmenbedingungen als Hemmnisse für klimaneutralen Betrieb. 

Quelle:
BARMER-Studie: Klimaneutraler Gesundheitssektor: https://research.faz-bm.de/wp-content/uploads/2022/11/BARMER-KlimaneutralerGesundheitssektor-2022_L.pdf

Wie kann es Kliniken gelingen, die Onkologie umweltfreundlicher zu gestalten, ohne dabei das Patient:innenwohl zu gefährden? Können Sie konkrete Maßnahmen benennen?

Prof. Neubauer: Menschen, die Krebserkrankte versorgen, sollten alles dafür tun, um Tumoren und Rezidive zu verhindern. Alleine dadurch tragen wir nicht nur zum Wohle unserer Patient:innen, sondern vermutlich auch zum Klimaschutz bei – denn wenn kein Rezidiv auftritt, müssen wir nicht behandeln und schonen somit Ressourcen. Und: Wenn gesunde Menschen nicht mehr mit dem Pkw, sondern dem Rad zur Arbeit fahren, dann senken sie allein dadurch bereits ihr Sterberisiko durch Krebs und verbessern gleichzeitig das Klima. Es geht also oft Hand in Hand! Auch können diä­tetische und ernährungspolitische Ansätze, die auf eine vermehrte Zufuhr pflanzlicher Nahrungsquellen abzielen, protektiv wirken – Beispiel ist der Zusammenhang von rotem Fleisch und Darmkrebs. Auch hiervon profitiert die Umwelt.

Die Quellen des CO2-Ausstoßes in der Onkologie stellen wiederum mögliche Stellschrauben dar, um die Nachhaltigkeit zu verbessern. Ansetzen könnte man unter anderem bei grünen Produktions- und Lieferketten, baulichen Maßnahmen wie Lüftungstechnik, der technischen Effizienz und Indikationsqualität bildgebender Verfahren, Nachsorge­intervallen, der Ambulantisierung, Telemedizin, Krankenhausküchen und der Reduktion von Abfällen.

Auch gilt es, Abläufe in der Klinik zu optimieren und Krankenhäuser klimafreundlich zu bauen. Meines Erachtens gehören auf jedes Klinikdach eine Grünfläche und Solaranlagen. Wichtig ist es darüber hinaus, Anreize für die Wirtschaft zu schaffen, die dazu motivieren, sich am Klimaschutz zu beteiligen. Hier ist dann die Politik gefragt. Eine klimagerechte Sanierung der Krankenhäuser in Deutschland würde nach Schätzungen des Katholischen Krankenhausverbands rund 30–35 Milliarden Euro kosten.

Dr. Balzer: Die Bundesärztekammer hat zwei Handlungsanweisungen – für Klinik und Praxis – herausgegeben, wie Treibhausgasemissionen reduziert werden können. 2023 wurde das Kompetenzzentrum für klimaresiliente Medizin und Gesundheitseinrichtungen (KliMeG) von KLUG initiiert, um Pioniere einer ökologisch nachhaltigen und klimaresilienten Gesundheitsversorgung zu vernetzen und die Transformation für den gesamten Bereich der stationären Gesundheitsversorgung zu gestalten.

Darüber hinaus gilt es, die eigene tägliche Praxis zu hinterfragen, evidenzbasiert zu arbeiten, Mitarbeiter:innen zu schulen und keine Ressourcen zu verschwenden. Praxis und Klinik müssen nachhaltig gestaltet werden.

Welchen politischen Handlungsbedarf sehen Sie?

Dr. Balzer: Es besteht dringender Handlungsbedarf, um Klimaschutz in Kliniken und Praxen zu fördern. Auf dem 125. Ärztetag in Berlin im Jahr 2021 wurde beschlossen, bis 2030 den Medizinsektor auf ein Netto-Null zuzusteuern. Wollen wir das aber wirklich erreichen, müssen wir noch sehr viel dafür tun. Aktuell wird daran meines Erachtens zu zaghaft bzw. nicht zielführend genug gearbeitet, obwohl sich schon einiges getan hat. Es gilt, Nachhaltigkeit und den verantwortungsbewussten Umgang mit begrenzten Ressourcen als neu zu identifizierenden gemeingültigen Grundgedanken und beruflichen Standard in der ärztlichen Praxis zu etablieren.

Interview: Dr. Miriam Sonnet

Dr. Susanne Balzer, Hausarztpraxis Dres. Metz & Balzer, Köln Dr. Susanne Balzer, Hausarztpraxis Dres. Metz & Balzer, Köln © Balzer
Prof. Dr. Andreas Neubauer, Klinik für Hämatologie, Onkologie, Immunologie, Universitätsklinikum Gießen und Marburg
Prof. Dr. Andreas Neubauer, Klinik für Hämatologie, Onkologie, Immunologie, Universitätsklinikum Gießen und Marburg © Jürgen Laackman