Nystagmus und Ataxie Zu oft aufs Gas gedrückt
Eine plötzlich aufgetretene progrediente Gangstörung, begleitet von Schwindel und Sehstörungen, führte einen 60-Jährigen in die Klinik. Dort stellte man auch einen Upbeat-Nystagmus, eine Gangataxie sowie verstärkte Reflexe der Arme fest, wie die Autoren um Dipl.-Ärztin Simone Kündig vom Stadtspital Zürich Triemli berichten. Daneben ergab die Untersuchung eine intakte Sensorik, keine Gesichtsfeldausfälle und keinen Meningismus. Bis auf einen bekannten Bluthochdruck wurden unauffällige Vitalparameter inklusive Blutzucker gemessen. Alkohol- oder Drogenkonsum verneinte der Patient.
IgG- und IgM-Antikörper im Liquor entdeckt
Der erste Verdacht einer zerebralen Ischämie oder Blutung ließ sich mittels CT und MRT schnell verwerfen. Der Liquorbefund wies allerdings einen erhöhten Proteingehalt mit deutlicher intrathekaler Immunglobulin-Synthese (IgG und IgM) bei nur leicht erhöhter Zellzahl auf. Solche Veränderungen sind sowohl mit einer Multiplen Sklerose, anderen Autoimmunerkrankungen des Gehirns, Hirntumoren als auch zerebralen Infektionen vereinbar. Weil anamnestisch bei dem Patienten eine Gonokokkeninfektion nach ungeschütztem Geschlechtsverkehr mit einem Mann bekannt war, wurde eine Lues-Diagnostik veranlasst – mit positivem Ergebnis.
Beliebt beim Chemsex
Das geruchsintensive Gas Chlorethyl ist seit 1847 bekannt. Seine halluzinogene und euphorisierende Wirkung machte man sich im letzten Jahrhundert für Anästhesien zunutze. Heutzutage wird Chlorethyl noch als Kälte- und Lösungsmittel und als oberflächliches Lokalanästhetikum eingesetzt – z. B. bei Sportverletzungen. Das Gas ist als Spray billig, nicht verschreibungspflichtig und wird wegen der luststeigernden Wirkung im Rahmen von „Chemsex“ verwendet. Eine neurotoxische Wirkung ist zwar pathophysiologisch nicht verstanden; es gibt aber entsprechende Fallberichte mit unter anderem Tremor, Ataxie, Doppelbildern bei Nystagmus, Verwirrtheit und Hyperreflexie. Auch Todesfälle sind beschrieben worden. Eine körperliche Abhängigkeit von Chlorethyl ist nicht bekannt, ein Entzug ist daher nicht nötig – eine entsprechende Beratung mit Unterstützung beim Beenden des Konsums hingegen wichtig.
Die Neurolues tritt in verschiedenen Varianten auf; in diesem Fall vermuteten die Ärzte eine meningovaskuläre Form. Im Rahmen der intravenösen Therapie mit Penicillin über 10−14 Tage gingen die Beschwerden des Patienten deutlich zurück. Allerdings entwickelte der Mann in den folgenden Monaten erneut mehrmals die gleiche Symptomatik. Nun ergab die Liquoruntersuchung nur gering erhöhte Werte für Zellzahl und Proteine; es fand sich kein Hinweis auf ein Lues-Rezidiv. Die zerebrale Bildgebung war weiterhin unauffällig.
Jetzt konnte nur eine erneute Befragung weiterhelfen. Der Patient gab schließlich an, seit rund acht Monaten etwa zweimal pro Woche das halluzinogene und euphorisierende Gas Chlorethyl (siehe Kasten) zu inhalieren; in letzter Zeit eher häufiger. Von Chlorethyl sind neurotoxische Effekte bekannt, also gingen die Ärzte von einem Chlorethylabusus als Ursache für die wiederkehrende neurologische Symptomatik des Mannes aus. Die nachgewiesene Neurolues war vermutlich asymptomatisch gewesen, eine Therapie dennoch indiziert. Dem Patienten wurde dringend geraten, mit dem Konsum der Chemikalie aufzuhören. Nach sechs Wochen war er gangsicherer, Schwindel und Doppelbilder sistierten. Inzwischen ist kein Nystagmus mehr nachweisbar und das Gangbild unauffällig geworden.
Quelle: Kündig S et al. Swiss Med Forum 2024; 24: 200-202; DOI: 10.4414/smf.2024.1182967704