Praxiskolumne „All inclusive“ ist vorbei
Auslöser war ein Gespräch darüber, dass ich mit ständig steigenden Nebenkosten und vor allem einer Personalkostenexplosion konfrontiert bin. Gleichzeitig wird aber der Geldhahn, der das Ganze am Laufen halten soll, seit Jahrzehnten eher zu- als aufgedreht. Woher soll ich das Geld also nehmen? Viele meinen: Die Anpassung der GOÄ soll es richten. Ja, die GOÄ muss erneuert werden. Aber, Hand aufs Herz, das größere Problem ist der EBM in seiner All-inclusive-Mentalität.
Mal ein schönes Beispiel: Ein hochaltriger Herr, Bewohner eines Pflegeheimes, war seit Anfang des Quartals im Krankenhaus. Erste Fallstricke: Obwohl der schwersterkrankte Patient die Klinik eventuell nicht mehr verlassen wird, fordert das Pflegeheim sämtliche Medikation und den Sechs-Monats-Inkontinenzbedarf. Alles Dinge, die der Patient aktuell vom Krankenhaus bekommt. Also trete ich meiner MFA auf die Füße. Wir warten jetzt erst mal ab. Kein Rezept während des Krankenhausaufenthaltes, sonst Regressgefahr.
Als nächstes erfahre ich erfreut, dass der Patient nach zwei Monaten wieder im Heim ist. Es folgt der gefaxte vorläufige Entlassbrief. Dann Telefonate mit dem Heim, Ankündigung des Hausbesuches und Abgleichen der Medikamente mit Verordnung und Anpassung des BMP. Rückfragen bei den Kolleg*innen in der Klinik.
Den Hausbesuch kann ich erst am Nachmittag machen und als normalen Heimbesuch abrechnen – nun setze ich trotz unzähliger Telefonate zum ersten Mal eine Ziffer an. Nachmittags ist allerdings die Heimleitung nicht da. Das Büro, in das ich meine Anordnungen faxte, ist geschlossen. Es ist nichts passiert. Alles bisher umsonst gewesen.
Also gebe ich erneut vor Ort die Anweisungen: Sauerstoff-Versorgung, spezialisiertes Wundversorgungs-Team, Physiotherapie, Inhalationen. Am nächsten Morgen mache ich das alles erneut, denn nun braucht das Heim die Anordnung in gedruckter Form. Ich telefoniere mehrfach mit der Einrichtung, den Angehörigen, den Wundspezialisten, dem Sanitätshaus, der Apotheke. Ganze 1,5 Stunden meiner Arbeitszeit sind wieder gebunden. Was darf ich heute abrechnen? Nichts. Alles in dem Hausbesuch am Vortag inklusive – bei dem ich nicht einmal die vollen Kilometer anrechnen lassen kann, da ich unverschämterweise Patient*innen außerhalb eines Radius von 5 km versorge.
Genauso wenig abrechnen darf ich das lange Gespräch mit Angehörigen oder Betreuenden eines polymorbiden, demenzkranken Patienten, der nicht anwesend ist. Oder die komplizierte Einweisung eines akut erkrankten Patienten, für den ich nirgendwo ein Krankenhausbett finde.
Viele Patient*innen haben sich diese Mentalität angeeignet. „Ich zahle meinen Krankenkassenbeitrag. Da ist das ja wohl alles drin.“ Nein, ist es nicht. Nicht, wenn es um Vorsorge geht. Aber auch nie, wenn es um dieses gesamte organisatorische Brimborium geht, das so häufig ansteht bei chronisch kranken Personen, die immer weniger zuständige Angehörige haben.
„Ich habe gehört, man hat jedes Jahr ein Anrecht auf ein großes Blutbild!“ „Die Vitamine kann man alle auf Kasse abnehmen. Das hat die Kasse gesagt. Wenn Sie es für notwendig halten!“ Genau. Das macht Spaß. „Wenn Sie es für notwendig halten.“ Wie oft ich diesen Satz von Patient*innen höre. Bisher hat mir noch keine Krankenkasse das schriftlich gegeben, egal um was es ging. Sobald man sich bestätigen lassen will, dass die Verordnung regressfrei bleibt, herrscht Stille. Aber Versicherten wird alles versprochen.
In Zeiten von zunehmendem Ärztemangel, abnehmendem Wunsch nach Niederlassung und hohem finanziellen Druck wäre es mehr als angebracht, leistungsgerecht entlohnt zu werden. Anzuerkennen, was wir über das Medizinische hinaus an Versorgung leisten. Das Risiko von Regressen zu minimieren, überschaubare und unbürokratische Strukturen aufzubauen. Und Kostentransparenz für die Patient*innen herzustellen. Denn vom Schmerzmedikament bis zum Antidiabetikum: Die wenigsten wissen, welche Kosten sie im Gesundheitswesen auslösen. Aber das sollten sie. All inclusive ist over.