Betteln 2.0 oder letzter Strohhalm?
Vermehrt tauchen sie jetzt im Internet auf, jene Spendenaufrufe zu Gunsten kranker Menschen, die auf diesem Wege um finanzielle Unterstützung bei der Beschaffung teurer Medikamente oder einer kostspieligen Operation bitten. Wie muss dieses Crowdfunding in eigener Sache bewertet werden? Ist es schlicht „Betteln 2.0“ via moderner Kommunikationskanäle? Oder handelt es sich dabei um den letzten Strohhalm für todkranke und bedürftige Patienten?
„Medizinisches Crowdfunding ist das Symptom eines lückenhaften Gesundheitssystems“
Die meisten dieser Hilferufe im Netz stammen aus den USA. Kein Wunder, denn medizinisches Crowdfunding ist dort zum Symptom eines Systems geworden, in dem Gesundheitsversorgung kein öffentliches Gut ist. Viele Amerikaner sehen sich bei einer schweren Krankheit oder nach einem Unfall mit hohen Kosten für die Gesundheitsversorgung konfrontiert.
Das ist kein neues Problem, aber Crowdfunding hat es sichtbarer gemacht. Obamacare, die Gesundheitsreform des ehemaligen Präsidenten, konnte die Lücken im System nur teilweise schließen. Falls der republikanisch dominierte Kongress das Gesetz doch noch kippen sollte, könnten Millionen Menschen ihren Versicherungsschutz verlieren, und zahlreiche Krankenkassen würden ihre Leistungen noch weiter einschränken.
Doch nach vier gescheiterten Abstimmungen im Senat sieht es so aus, als würde Obamacare erst einmal in Kraft bleiben. Selbst wenn es so kommt, müssen Amerikaner Teile ihrer medizinischen Behandlung aus eigener Tasche zahlen. Und so bleibt es dabei: Auch wer eine Krankenversicherung hat, muss feststellen, dass sogar gute Policen die anfallenden Leistungen nur teilweise decken.
Tatsächlich ist Krankheit daher der Hauptgrund für Privatinsolvenz in den USA. Denn die Gesundheitskosten, insbesondere für Medikamente und Klinikaufenthalte, liegen dort um ein Vielfaches höher als in Kanada und Europa. Die Zuzahlungen sind hoch: Für jeden Besuch beim Facharzt werden 45 Dollar, für jedes CT, jedes MRT, für jeden komplexeren Bluttest und jeden Besuch in der Notaufnahme 300 Dollar fällig.
„Je dramatischer die Geschichte, desto üppiger der Geldsegen“
Die eingangs gestellte Frage nach dem ethischen Aspekt ist nur schwer zu beantworten. Es bleibt Unsicherheit, denn jede an sich gute Idee lockt natürlich auch Betrüger an. Für den potenziellen Spender ist nicht überprüfbar, ob die Story tatsächlich wahr ist oder nach dem Motto „je dramatischer die Geschichte, desto üppiger der Geldsegen“ verfasst wurde. Ein wirklich seriöses Gütesiegel, das diesbezüglich für Transparenz sorgen könnte, gibt es bislang noch nicht. So steht wohl nur eins fest: Das deutsche Krankenversicherungssystem mit all seinen Schwächen ist weit besser als sein Ruf!