Coronamaßnahmen in Deutschland – ein riskanter Flickenteppich
Der Präsident des Weltärztebundes sieht die Politik in einem Dilemma. Zur Lösung der mit der Pandemie entstandenen Probleme müsse zwischen Gesundheit, sozialen Folgen, Wirtschaft und Grundrechten der Bürger abgewogen werden. In Deutschland sei das Gegensteuern dennoch „sehr klug“ abgelaufen. Verweigerer strengerer Maßnahmen wie Großbritannien oder USA hätten dagegen einen bitteren Blutzoll zahlen müssen. „Hoffentlich sind die USA dann wenigstens ihren Präsidenten los.“
Deutschland habe es geschafft, auf einem „normalen Level zu bleiben“. Prof. Montgomery lobte bei einem Webgespräch des Bundesverbandes Managed Care die Kanzlerin und wünschte sich mehr Respekt vor politischen Entscheidungen. Gleichzeitig kritisiert er aber, „was Länderministerpräsidenten sich leisten“.
Übernachtungsregeln zu Hotspots sind absurd
Als Beispiel nennt er die Torstraße in der Hauptstadt, die Anfang Oktober an einem Ende zum Hotspot Berlin-Mitte gehörte, wo Hotelübernachtungen untersagt waren, und am anderen Ende zu Prenzlauer Berg mit erlaubten Übernachtungen. Das seien absurde Regeln, klagt der ehemalige Bundesärztekammerpräsident. Zuviel Föderalismus schade, wenn es um Menschenleben gehe.
Als Absurdität bezeichnet Prof. Montgomery die Urlaubseinschränkungen für Hotspot-Regionen auch deshalb, weil es schwierig sei an Tests zu kommen, selbst im begründeten Fall. Sein Sohn sei dabei gescheitert, an einem Freitag in einer Praxis getestet zu werden, berichtet der Mediziner. Letztlich konnte er in einem Labor gegen Vorkasse einen Test organisieren.
Deutschland sei hinsichtlich der Maßnahmen, aber auch beim Testen, ein Flickenteppich. Prof. Montgomery zeigt sich besorgt, dass sich das derzeitige pandemische „Grundrauschen zu einer Welle mit Schaumkronen entwickelt“. Als Weltärztepräsident verweist er auf gute Erfahrungen in anderen Ländern, konkret nennt er Taiwan und Südkorea, wo es u.a. eine strikte Nachverfolgung per App gebe. Wenn er an die Datenschutzdiskussion zur Corona-Warn-App denke, dann wisse er, dass das in Deutschland nicht funktioniere. Es würden damit aber auch riesige Chancen vergeben.
Zwar haben sich die Bundesländerchefs letzte Woche nach Gesprächen mit der Kanzlerin auf einheitliche Regelungen zu Kontaktbeschränkungen geeinigt. Erste Schritte sollen die Behörden demnach einleiten, wenn 35 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner innerhalb einer Woche verzeichnet werden. Einigung über die Frage eines Beherbergungsverbots für Touristen aus innerdeutschen Risikogebieten konnte allerdings nicht hergestellt werden. Eilentscheidungen von Gerichten, die Verbote in konkreten Fällen kippten, zwingen die Länder neu darüber nachzudenken.
Sollte 2021 ein Impfstoff gegen SARS-CoV-2 verfügbar sein, geht Bundesgesundheitsminister Jens Spahn davon aus, dass die Impfungen angesichts des zu erwartenden Andrangs nicht wie beim Grippeschutz in Hausarztpraxen, sondern in einem anderen, noch zu bestimmenden „Setting“ durchgeführt werden müssen. Er spricht – zumindest für die erste Zeit – von „Impfzentren“.
Spahn: Immunisierung wird nicht zur Pflicht werden
Eine Impfquote von 55 bis 65 % der Bevölkerung soll mindestens erreicht werden. „Es ist ein Angebot und es wird auch eines bleiben“, so Spahn. Eine Pflicht zur Immunisierung lehnt er ab.
60 Mio. Impfdosen werde es nach einer Zulassung auch nicht auf einmal geben. „Wir müssen mit einigen Millionen, wenn überhaupt, beginnen.“ Deshalb müsse priorisiert und kanalisiert werden. Die Ständige Impfkommission (STIKO), die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina und der Ethikrat würden derzeit die Kriterien hierfür erarbeiten, berichtet der Minister. Bestimmten Bevölkerungsgruppen sei dann klar zu sagen, dass sie eben noch nicht dran seien.
Professor Dr. Thomas Mertens, Vorsitzender der STIKO, hält eine medizinisch-epidemiologisch sinnvolle und ethisch gerechte Empfehlung zur Impfung für erforderlich, genauso wie deren Umsetzbarkeit. Impfzentren seien dafür der richtige Weg. Es sei unmöglich, dem Hausarzt die Priorisierung zu übertragen. „Stellen Sie sich vor, da kommt jemand, der seit 20 Jahren in der Praxis ist, und er müsse wieder nach Hause gehen, weil er nicht so hoch auf der Priorisierungsliste steht.“ Entscheidend sei auch, dass die Gewichtung verstanden und akzeptiert werde. Deshalb müsse alles transparent laufen.
Dass hier gut geplant werden muss, zeigt das Beispiel Grippeschutzimpfung. 26 Mio. Impfdosen – so viel wie nie vorher – , hat der Bund bestellt. 300 Mio. Euro werden dafür ausgegeben, hinzu kommen 200 Mio. Euro an Vergütung für die impfenden Ärzte. Vor 2020 war rund ein Drittel der Menschen bereit, sich immunisieren zu lassen. Jetzt stehen sie Schlange. 55 % wollen sich impfen lassen, sagt Spahn.
Hausarztpraxen sind schon jetzt voll ausgelastet
Viele Praxen mussten ihre Organisation anpassen. „Die Hausarztpraxen sind derzeit mit der Versorgung ihrer Patientinnen und Patienten voll ausgelastet – gerade auch vor dem Hintergrund der beginnenden Infekt- und Grippe-Impfzeit“, meldet der Deutsche Hausärzteverband. Verwiesen wird zudem auf verstärkte Anforderungen schneller Corona-Tests wegen der Beherbergungsregelungen.
Eine Ergänzung könnten Grippeimpfungen in Apotheken sein, so wie es im Ausland, etwa in Frankreich, längst praktiziert wird.
Davor stehe allerdings eine politische Diskussion zwischen Ärzte- und Apothekerschaft, so der Minister. In regionalen Modellprojekten würden derzeit Erfahrungen gesammelt. Während der Pandemie könne es aber helfen, zusätzliche Anlaufstellen für Grippeimpfungen zu haben. Dies bekräftigt Prof. Mertens. Bisher sei die Schwelle für Grippeimpfungen zu hoch, oft müsse man erst einmal einen Termin in der Praxis vereinbaren. Die Schwelle müsse so niedrig wie möglich sein.
Medical-Tribune-Bericht