Israel-Gaza-Krieg Diabetesexperte spricht über die verheerende Versorgung

Gesundheitspolitik Autor: Angela Monecke

Die medizinische Versorgung ist gegenwärtig nahezu unmöglich. Die medizinische Versorgung ist gegenwärtig nahezu unmöglich. © Mete Caner Arican – stock.adobe.com

Ärzteorganisationen sprechen von katastrophalen Zuständen im Gazastreifen, eine medizinische Versorgung ist gegenwärtig nahezu unmöglich. Hilfslieferungen mit lebenswichtigen Medikamenten wie Insulin schaffen es meist nur bis zur Grenze. Prof. Dr. Peter Schwarz, President-Elect der International Diabetes Federation (IDF), über die desaströse Diabetesversorgung im Gazastreifen.  

Ärztliche Organisationen wie die International Diabetes Federation sind zutiefst besorgt über die medizinische Versorgung im Gazastreifen, die gegenwärtig beinahe unmöglich ist. Wie schätzen Sie die aktuelle Lage bei der Diabetesversorgung ein – vielen Patienten fehlt ja lebenswichtiges Insulin?

Ich muss ein wenig ausholen: Die Situation beim Diabetes war im Gazastreifen vor dem Krieg ganz gut – und von jeher besser als im Westjordanland. Denn es gab immer Geld aus Katar. Zudem trug die Hamas bislang die Gesundheitskosten der palästinensischen Bevölkerung mit Unterstützung des UN-Flüchtlingswerks. Deshalb war es möglich, dass Menschen mit Typ-1-Diabetes auch Systeme zur kontinuierlichen Glukosemessung (CGM), Insulinpumpen und -Pens nutzen konnten, vor allem junge Patienten. Das Diabeteszentrum im Al-Shifa-Krankenhaus in Gaza war vom Standard her ähnlich wie in Deutschland ausgestattet. Etwa 530 Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes wurden dort auf hohem medizinischem Niveau versorgt. Es gab eine moderne Diabetologie, auch gute Forschungsarbeit. Diabetes Palestine, die palästinensische Diabetesgesellschaft, war dort ebenfalls angesiedelt. Eine sehr aktive Gruppe, die neben Israel auch Mitgliedsorganisation der International Diabetes Federation ist. Man hat es ja in den Nachrichten gesehen: Die Klinik wurde im Krieg leider so stark beschossen, dass der medizinische Betrieb zum Erliegen kam. 

Was bedeutet die dramatische Verschlechterung der medizinischen Lage für die Diabetespatienten?

Die Besonderheit war hier immer, dass die Patienten ihr Insulin nicht für drei Monate bekommen haben, wie es bei uns in Deutschland der Fall ist, sondern wochenweise. Viele konnten das Insulin zu Hause nicht adäquat im Kühlschrank lagern und holten sich dann jede Woche das Insulin in der Klinik ab. Das ging dann natürlich nicht mehr. Die Kinder und Jugendlichen aus der Shifa-Klinik und die Ärzte sind in alle Himmelsrichtungen verstreut. Mindestens 20 Kinder mit Typ-1-Dia­betes sind im Norden von Gaza geblieben, sie sind mit hoher Wahrscheinlichkeit tot. Vermutlich sind es noch viel mehr. Drei Tage kein Insulin – dieser gravierende Insulinmangel führt beim Typ-1-Diabetes schnell zur Ketoazidose und häufig unmittelbar zum Tod. Patienten mit Typ-2-Diabetes haben solche akuten Probleme in der Regel nicht, können somit eher überleben. 

„Bitte, Doktor, sagen Sie mir, was ich tun soll“

Im Gazastreifen leben knapp 150.000 Menschen mit Diabetes. Nach Angaben der Organisation Diabetes Palestine wurden mehr als 500 Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes aus Gaza-Stadt vertrieben. Sie leben seither in Zelten, leiden unter Ernährungsunsicherheit. Viele von ihnen fallen aufgrund ihres Insulinmangels in ein diabetisches Koma, so die Diabetesorganisation. Mehr als 20 junge Menschen mit Diabetes aus der größten Stadt des Gazastreifens seien zudem während der Luftangriffe getötet worden.

In einem Instagram-Reel wendet sich ein verzweifelter junger Patient mit Typ-1-Diabetes an die Weltöffentlichkeit. Durch die mangelnde Insulinversorgung sei er immer wieder gezwungen gewesen, seine Medikamente zu rationieren. „Es gab Tage, an denen ich nicht aß, nur um meinen Insulinvorrat zu bewahren. Ich musste mich der schrecklichen Realität stellen, dass mir die Zeit ausgeht.“

Eine WhatsApp-Nachricht eines weiteren Patienten mit Typ-1-Diabetes, die den Präsidenten der Organisation Diabetes Palestine, Dr. Younis Abualnour, erreichte, liest sich ähnlich tragisch: „Mir ist kalt und ich habe Hunger, meine Hände zittern, und ich schwitze, mein Blutzucker ist niedrig. Ich weiß, dass dies die ersten Symptome einer Hypoglykämie sind. Bitte, Doktor, sagen Sie mir, was ich tun soll. Ich habe keine Süßigkeiten, ich habe gar nichts zu essen.“

Das lokale Team der Diabetes-Organisation versucht weiterhin, mithilfe internationaler Partner die Diabetesversorgung im Gazastreifen aufzubauen.

Weitere Infos gibt es unter www.idf.org und www.directrelief.org

Knapp fünf Monate vor dem Krieg hatten Sie Israel und das Westjor­danland besucht. Sie stehen fast täglich in engem Austausch mit den Organisationen vor Ort. Was hören Sie?

Erst vor Kurzem hatte ich noch Kontakt zum Präsidenten von Diabetes Palestine, Dr. Younis Abualnour, der inzwischen in Kairo ist. Schon zu Kriegsbeginn habe ich eine Gruppe gegründet, das „Desaster Committee“, um den Menschen in Gaza zu helfen. Zwei, drei Wochen, nachdem der Krieg losging, gab es ein Online-Meeting, bei dem es darum ging, Insulin nach Gaza zu schaffen. Dr. Abualnour befand sich gerade im Shifa-Krankenhaus. Während des Meetings schlug eine Rakete in Gaza ein. Man hörte das laute Krachen. Das war schon gespenstisch. Zugeschaltet waren auch der Botschafter des Sudan, Vertreter aus Ägypten und vom Roten Kreuz. Es hat drei Tage gedauert, bis wir das Insulin am ägyptischen Grenzübergang hatten. Man konnte online die Plätze auf den Lkw buchen. Die Hilfslieferung war bis zur Grenze sehr schnell und gut aufgebaut durch die UN. Das Insulin wurde von den Grenzbehörden aber nicht durchgelassen.  

Seit Kriegsbeginn sind vier Monate vergangen. Sind noch Restbestände an Insulin vorhanden?

Vor Ort gibt es kaum Hilfe. Zwar sind die Krankenhäuser alle zerstört, aber man könnte Medikamente verteilen. Man kommt aber zum Beispiel an die Menschen im Norden nicht mehr ran. Es wurden riesige Flüchtlingslager geschaffen, doch es existiert keine Infrastruktur mehr.

Gibt es keine Versorgungszelte, wo man Insulin und andere Medikamente hinbringen könnte?

Eher nicht. Normalerweise ist die International Diabetes Federation bei solchen Hilfslieferungen sehr stark. Man braucht aber einen Player vor Ort, der es ermög­licht, solche Strukturen geschützt aufzubauen. Daran fehlt es. Wer ist überhaupt der Ansprechpartner: die Hamas, die UN oder Israel? Keiner kann uns Sicherheit gewährleisten. Und da die Menschen immer wieder vertrieben werden, zerstört das den Aufbau einer Infrastruktur. Am Ende sind die Menschen auf sich selbst angewiesen.

Wie die Menschen mit Diabetes …  

Das ist richtig. In Gaza kann man aber wenigstens davon ausgehen, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen im Diabetes-Management gut geschult sind. Wenn sie etwa eine bestimmte Menge Insulin spritzen müssen und einen Vorrat haben für drei Wochen, können sie diesen auch auf sechs bis acht Wochen strecken. Dann nehmen sie zwar in Kauf, dass der Blutzuckerspiegel steigt, können aber in einer Krisensituation damit überleben. Viele müssen auch hungern.

In welchem Umfang werden weiterhin Versuche unternommen, um den Patienten vor Ort zu helfen?

Die gibt es praktisch permanent. Erst vor wenigen Tagen war ich mit Direct Relief, einer amerikanischen Hilfsorganisation, in Kontakt. Sie ist brillant darin, gemeinsam mit dem Rotem Kreuz und/oder den Vereinten Nationen das Insulin an den ägyptischen Grenzübergang zu bringen. Die Medikamente kommen aus den USA, Insulin for Child und Insulin for Life beziehen Insulinprodukte aus Australien und Singapur. Es wird quasi wie in Amazon-Paketen verschickt, nur gekühlt. Die Organisationen kommen an der Grenze aber nicht weiter, weil es, wie gesagt, keine lokalen Kontaktpersonen gibt, die zusichern, dass sie die Medikamente auch verteilen können. Kein westlicher Hilfslieferant geht momentan in den Gazastreifen. Unsere einzige Hoffnung ist eine Waffenruhe, auch wenn sie nur kurzfristig ist.

Quelle: Medical-Tribune-Bericht

Prof. Dr. Peter Schwarz Prof. Dr. Peter Schwarz © David Pinzer Fotografie