Mit Individualisten ist kein Krieg zu gewinnen

Kolumnen Autor: Dr. Günter Gerhardt

Laut Dr. Günter Gerhardt werden Ärzte in ihrem Handeln zu stark eingeschränkt. Laut Dr. Günter Gerhardt werden Ärzte in ihrem Handeln zu stark eingeschränkt. © fotolia/Aycatcher

Unsere Patienten können sich auf uns verlassen, wir sind unermüdlich tätig für sie, während und auch außerhalb der Praxisöffnungszeiten. Leider wird diese ärztliche Tätigkeit beeinträchtigt von Störfaktoren, die ich beschreiben möchte mit Kontrollwahn, Sanktionen, überbordender Bürokratie, Gesetzes-Tsunami und nicht leistungsorientierter Vergütung.

Von alleine wird sich hier nichts in unserem Sinne ändern. Also sollten diejenigen unter uns, die etwas verändern wollen, die in der Praxis notwendige Rolle des Individualisten aufgeben und sich in Gremien der KV, Kammern und Berufsverbänden engagieren – getreu dem Vorbild unserer Vorfahren, die den Missbrauch des Kassenmonopols nicht länger hinnehmen wollten und deshalb im Jahr 1900 den "Leipziger Verband" (später Hartmannbund) gründeten.

Der Verband verlieh seinen Forderungen mit Streikaktionen Nachdruck. Die Krankenkassen reagierten und gründeten eigene Ambulatorien, aber ohne Ärzte ging da gar nichts. Die Ärzte machten sich unentbehrlich, Kassen und Regierung knickten ein, die Ärzteschaft hatte sich durchgesetzt.

Mit dieser Blaupause würde das heute wieder klappen, wenn da nicht der Individualismus wäre, der der gesamten Ärzteschaft nicht weiterhilft. Damit ist kein Krieg zu gewinnen. Was wir heute allenfalls praktizieren ist eine Bindung innerhalb von Gruppen: In der einen wird der z.B. Einzigartigkeit der Hausärzte, in der anderen der Einzigartigkeit der Fachärzte Rechnung getragen.

»Wir müssen den Sicherstellungsauftrag verteidigen«

Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn im politischen Geschäft auf der Systemebene die Einzigartigkeit aller Ärzte und Psychotherapeuten eingesetzt würde. Der Zusammenschluss von Individualisten zu einer Gesamtindividualität (= Einzigartigkeit) findet nicht statt: 370 000 berufstätige Ärztinnen und Ärzte schaffen es nicht, ihren Sachverstand auf der Systemebene zu bündeln und in politische und gesetzgeberische Entscheidungen einzubringen.

Ein Grund dafür sind nicht per se die vielen ärztlichen Gruppierungen wie Haus-/Fachärzte, Niedergelassene/Krankenhausärzte, ärztliche/ psychologische Psychotherapeuten etc., die sich allesamt zu Recht stark machen für die Interessen ihrer Mitglieder. Nein, was fehlt ist der Einsatz der politischen Trumpfkarte Gesamtindividualität. Sie kann nicht gespielt werden, weil uns Grabenkämpfe innerhalb der Gesamtärzteschaft schwächen und lähmen, zum politischen Papiertiger machen.

Klar, mit diesen Gruppierungen kann man KBV-, KV- und Kammerwahlen gewinnen, was uns aber in der Regel politisch nicht viel weiterbringt, da die nachfolgende Legislaturperiode geprägt ist von Wundenlecken und Warten auf die Revanche.

Und wie verhält sich in diesem nicht zu durchblickenden Geflecht die Frau/der Mann an der Basis in der Praxis, im Krankenhaus? Sie/er trifft eigene Entscheidungen. Wie das gemeint ist, möchte ich an einem Beispiel demonstrieren: Mit dem Sicherstellungsauftrag der KV wird teilweise ganz individuell umgegangen. Dass den unsere Vorfahren hart erkämpft haben und wie erleichtert sie waren, als er ins Gesetz über das Kassenarztrecht geschrieben wurde, das am 25. Mai 1955 im Deutschen Bundestag verabschiedet wurde, wissen die wenigsten von uns. Am Stammtisch hört sich das dann so an: "365 Tage und Nächte muss ich erreichbar sein, das kann doch gar nicht sein!"

»Ärzteschaft lähmt sich in Grabenkämpfen«

Das ist richtig, und genau deshalb hat die KV die Präsenzpflicht geschaffen. Sie regelt die ärztliche Versorgung der Patienten zu sprechstundenfreien Zeiten außerhalb der Öffnungszeiten der Bereitschaftsdienstzentralen (BDZ). Wir müssen bis zur Öffnung und ab der Schließung der BDZ erreichbar sein. Eine Vertretung vor der Öffnung bzw. nach der Schließung kann aber durch kollegiale Absprachen oder persönliche Vertretung sichergestellt werden.

Hier muss man einfach die Sys­tematik verstehen: Wir wollen den Sicherstellungsauftrag behalten, also müssen wir ihn auch bedienen und verteidigen. Außerhalb der Öffnungszeiten der BDZ darf folglich das Telefon einer Vertragsärztin/eines Vertragsarztes, egal welcher Fachrichtung, nicht einfach klingeln, ohne dass der anrufende Patient seinen Arzt oder dessen Vertreter erreicht. Auf einem Anrufbeantworter sind dem Anrufer eine oder mehrere Telefonnummern anzugeben, unter denen er zum Zeitpunkt seines Anrufs, den Arzt oder seine Vertretung, was die BDZ sein kann, erreicht.

Das schreibe ich übrigens nicht um zu zeigen, wie wir gegängelt werden, sondern weil ich es gut finde, dass wir den Sicherstellungsauftrag haben. Gegen volle Notfall­ambulanzen in Krankenhäusern zu Sprechstundenzeiten kann man nur argumentieren, wenn uns die Krankenhausgesellschaft nicht nachweisen kann, dass wir den Sicherstellungsauftrag nicht ernst nehmen, und sie deshalb Geld aus dem KV-Topf haben will.

Dass der Sicherstellungsauftrag des Jahres 1955 nicht mehr vergleichbar ist mit dem von heute, braucht uns an dieser Stelle nicht zu kümmern. Hauptsache ist, dass Ärzte aller Fachgruppen samt Psychotherapeuten auch künftig die ambulante Versorgung der Bevölkerung sicherstellen. Den Sicherstellungsauftrag habe ich jetzt nur beispielhaft erwähnt, er ist ein Teil der Systemebene.

Mit einer neuen starken KBV, den KVen und Kammern muss es gelingen, verloren gegangenes Terrain zurückzuerobern. Das kann aber nur gelingen mit effektiverer Einbindung der Basis in die Arbeit in den KVen und Kammern. Vielleicht können wir wirklich einmal unseren Sachverstand auf der Systemebene bündeln und in politische und gesetzgeberische Entscheidungen einbringen.