„Die Digitalisierung macht uns lächerlich“
Die Studiendaten sind fürchterlich, weil sie unser Weltbild auf den Kopf stellen“, sagte Professor Dr. Martin Bohus vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Egal ob bei Angststörungen, Depression oder posttraumatischer Belastungsstörung – in Metaanalysen liegen die Effektgrößen einer angeleiteten kognitiven Verhaltenstherapie im Internet (IKVT) im Vergleich zu Kontrollbedingungen ohne aktive Therapie im moderaten bis höheren Bereich. Und der Vergleich der angeleiteten IKVT mit einer Face-to-Face-KVT zeigt, dass beide Therapieformen über verschiedene Indikationen hinweg gleichwertig sind.
„Die Digitalisierung macht uns lächerlich“, klagte denn auch Professor Dr. Harald J. Freyberger von der psychiatrischen Universitätsklinik in Stralsund. „Sie stellt infrage, dass wir so störungsspezifisch arbeiten, wie wir immer sagen, und dass die beziehungsorientierte Therapie überhaupt relevant ist.“ Allerdings hängt auch die IKVT von der Unterstützung durch „echte“ Psychotherapeuten ab, optimalerweise erfolgt sie sowohl vor als auch während der Therapie.
„Besser, wir nehmen uns nicht so wichtig“
Eine Metaanalyse spricht dafür, dass unter diesen Voraussetzungen die Qualität der therapeutischen Allianz nicht schlechter ist als bei einer ambulanten Behandlung und dass sie einen Prädiktor für den Therapieerfolg darstellt. „Ein maximaler Angriff auf unser Selbstkonzept“, meinte dazu Prof. Bohus. Es gebe keine Studie, in der die Face-to-Face-Therapie besser war als die Internetbehandlung.
Für ihn als Wissenschaftler ist aber auch klar, dass man Ergebnisse, die nicht ins eigene Konzept passen, nicht ignorieren darf, sondern aufnehmen muss. „Stellen wir uns doch vor, dass wir uns getäuscht haben. Besser, wir nehmen uns weniger wichtig und nutzen die angeleitete IKVT, um möglichst vielen Menschen in möglichst kurzer Zeit zu helfen.“ Schließlich sind Psychotherapeuten in vielen Regionen nicht oder nur mit langer Wartezeit verfügbar. In manchen Situationen könnte die IKVT auch Vorteile haben, zum Beispiel, wenn Schamgefühle eine Rolle spielen.
Auch Online-Gruppentherapie-Formen sind zukünftig nicht ausgeschlossen. Laut Professor Dr. Christine Knaevelsrud von der Freien Universität Berlin nähern sich virtuelle Gruppenräume durchaus dem konventionellen Setting an. „Das Potenzial der Programme wächst mit den technischen Möglichkeiten“, sagte sie. Naturgemäß sprechen die Programme Patienten mit Internetzugang und -affinität an. Eine andere Selektion ist aber auch zu finden: Menschen, die sich keinem Psychiater oder Psychotherapeuten öffnen wollen oder denen Autonomie besonders wichtig ist.
Es gibt kein Entweder-oder, betonte Prof. Knaevelsrud. Denn auch mit der Internetbehandlung werden nicht alle Patienten erreicht und die Abbruchraten sind wie in der konventionellen Psychotherapie hoch. Zudem bedauerte die Kollegin, dass die bislang verfügbaren Programme kommerziell geprägt sind.
Prof. Bohus forderte seine Kollegen auf, sich in solche therapeuten-unterstützten Internettherapie-Programme mit einzubringen, um eine größere Unabhängigkeit von kommerziellen Interessen zu erlangen. Das Tätigkeitsfeld des Psychotherapeuten muss sich der Entwicklung anpassen. Nicht nur für die Entwicklung, auch für die Betreuung der Programme werden erfahrene Therapeuten benötigt.
Der Beruf wird langweilig werden
Aber nicht jeder wird gerne virtuell Patienten betreuen wollen. „Wer wird einen derart langweilig gewordenen Beruf noch wählen, wenn die spannenden interaktionellen Begegnungen fehlen?“, fragte Prof. Freyberger. Doch auch er hat z.B. mit einer telemedizinischen Nachbetreuung schon gute Erfahrung gemacht. Der Grund ist ganz praktischer Natur: In Mecklenburg-Vorpommern könnten 22 % der Bevölkerung ihren Therapeuten nicht innerhalb eines Tages mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen.