Kommentar Ein Hoch auf unsere Freiheit
Wir vermuten den Ukrainekrieg als Anlass für die Demonstration, schließlich ist es Tag neun der Invasion. Aber nein: Die Menschen sind auf der Straße, um gegen die Impfpflicht und für das Ende aller Maßnahmen zu demonstrieren. Letzteres mutet ein wenig seltsam an, wurden doch am Vortag in Hessen die Beschränkungen deutlich gelockert und der „Freedom Day“ kommt langsam in Sicht.
Wirklich fassunglos machen mich allerdings die lautstarken Rufe nach Freiheit. Natürlich weiß ich, dass es um die Freiheit geht, sich für oder gegen das Impfen zu entscheiden. Aber vor dem Hintergrund des aktuellen Weltgeschehens empfinde ich dieses Skandieren als ausgesprochen zynisch. Wir leben in einer Demokratie, haben die Freiheit, auf die Straße zu gehen, die Freiheit, unsere Meinung lautstark zu äußern, die Freiheit, uns gegen Obrigkeiten aufzulehnen. Was gäben viele Menschen in Russland darum, ihre Bedürfnisse öffentlich aussprechen zu dürfen, ohne sofort knallharte Repressalien zu riskieren. In Russland darf man seit meinem Stadtbummelsamstag das Wort „Krieg“ nicht mehr benutzen, hierzulande spielen Impfgegner leichtfertig mit dem Begriff „Freiheit“.
Ratlosigkeit hinterlassen auch die vielen Demonstrierenden, die offensichtlich aus dem Gesundheitssektor stammen und den Stopp aller Coronamaßnahmen fordern – selbstverständlich ohne Masken zu tragen. Mein persönliches Highlight aus dieser Gruppe: eine Frau mittleren Alters in einer klassischen Rettungsdienstjacke mit dem Rückenemblem „Notärztin“. Darüber hat sie sich ein handschriftliches Banner mit der Aufschrift „Gott allein wird es richten“ gehängt. Gesetzt den Fall, dass die Jacke nicht aus dem Kostümverleih stammte, kann man nur beten, dass im Notfall Gott einen guten Tag hat oder sich die Kollegin doch ihrer auf Erden erlangten Kenntnisse erinnert.
Dr. Anja Braunwarth
Redakteurin Medizin