Kommentar Spekulation und Krise
Speiseöl, Mehl, Klopapier – in der Krise wird wieder gehamstert. Wie in den Anfängen der Pandemie sind auch seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine hierzulande einzelne Supermarktregale leer gekauft oder mit Mengenbeschränkungen versehen. Das darf man als Zeichen der Angst und Unsicherheit werten.
Es erinnert aber auch an den globalen Brandbeschleuniger: die Spekulation. Wer Vorräte hortet, rechnet mit steigenden Preisen, die bei verknapptem Angebot dann auch eintreten. Der Run aufs Betongold folgt derselben Logik: Jetzt in Immobilien investieren, bevor diese noch teurer werden – was den Markt weiter anheizt. Dass mit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine und aufgrund der Sanktionen gegen Russland die Energiepreise hochschnellten, war keine Überraschung. Dito: gestiegene Getreidepreise. Und dass selbst bei sinkenden Rohölpreisen Benzin weiterhin mehr als zwei Euro pro Liter kostet, bestätigt nur, wie das mit Oligopolen halt so läuft.
Der Nachteil der unbeschränkten Spekulation mit Rohstoffen ist, dass sie nur für wenige die Lebensbedingungen verbessert, aber für viele das Dasein verschlechtert. Rasant steigende Weizenpreise haben zum Arabischen Frühling und zur Destabilisierung im Nahen Osten beigetragen.
Höhere Rohölpreise spülten zusätzliches Geld in autokratisch regierte Länder, was deren führende Cliquen reicher gemacht und wachsende Militärausgaben finanziert hat. Außerdem wurde es rentabel, in umweltschädliche Formen der Energiegewinnung wie das Fracking zu investieren. Die bittere Ironie der Abhängigkeit Deutschlands von Gas, Öl und Kohle aus Russland ist, dass wir uns nun die benötigte Energie von anderen lupenreinen Autokraten und Umweltsündern liefern lassen müssen, während die Kernenergie in der EU grün bemäntelt wird.
Man kann die Hoffnung haben, dass der jetzige Schock den Wandel zu einer klimaneutralen Volkswirtschaft beschleunigt und die westliche Welt enger zusammenrückt. Aber wenn ich allein an die Erschütterungen dieses Jahrhunderts zurückdenke – 9/11, der IS und die Folgen, die Finanzmarkt-/Bankenkrise, massenhafte Flucht und Vertreibung, Erderwärmung mit Hitze, Stürmen und Überschwemmungen, Corona-Pandemie, Krieg in Europa –, dann wundert es mich auch nicht, dass Menschen mit Nudeln und Toilettenpapier Katastrophenvorsorge betreiben wollen. Die empfundene Normalität ist zerbrechlich geworden.
Von psychotherapeutischer Seite gibt es den Rat, zur Stabilisierung des inneren Gleichgewichts, weniger potenziell beunruhigende Nachrichten zu konsumieren. Falls dieser Text in diesem Sinne kontraproduktiv war, entschuldige ich mich dafür. Es hat mir aber gutgetan, darüber zu schreiben.
Michael Reischmann
Ressortleiter Gesundheitspolitik