Kommentar Was ist so falsch am Kompromiss?
Ich habe einen Instagram-Account. Wirklich aktiv bin ich auf der Plattform nicht. Aber hin und wieder schaue ich mir einige der Storys an, die die User, denen ich folge, dort teilen. Eine davon ist eine Bekannte aus der Schulzeit. Wir haben uns seit dem Abitur nicht gesehen. Inzwischen lebt sie in Mexiko und ist von dort aus (virtuell) als Life Coach tätig. Tagtäglich beschreibt sie, wie sie sich in ihrem alten Leben von äußeren Zwängen hat leiten lassen – im Job, in Beziehungen – und wie sie irgendwann damit begann, sich davon zu lösen und das Leben zu leben, das ihre innersten Bedürfnisse befriedigt – ohne Kompromisse. In ihren Videos und Bildern sitzt sie am Strand und blickt auf die Wellen, tanzt Salsa oder berichtet von Augen öffnenden Atemübungen.
Inzwischen ertappe ich mich immer mal wieder dabei, wie ich über ihre Fragen nachdenke. Mit einer Erkenntnis: Auch in meinem Leben gibt es diese Kompromisse. Die Wünsche meines Partners sind nicht immer exakt dieselben wie meine. Im Job gibt es manche Dinge, die ich nicht aus purer Lust heraus mache, sondern die ganz einfach getan werden müssen. Aber: Ist das schlimm? Ist das behandlungsbedürftig? Oder einfach nur das ganz normale Leben?
Für einen Monat Coaching zahlt man bei ihr knapp 2.000 €. Wie hoch die Nachfrage ist, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass sie eine von vielen ist, die mit der Unsicherheit anderer Menschen Geld machen. Ob solche Angebote wirklich für mehr Zufriedenheit sorgen? Ich bin skeptisch. Wahrscheinlich richtet meine Bekannte mit ihrer Geschäftstüchtigkeit keinen direkten Schaden an. Aber sie ist Teil eines Zeitgeists, in dem jeder seine eigene Wahrheit haben und das tun kann, was sich für ihn gerade richtig anfühlt. Dieser Zeitgeist ist nicht förderlich bei der Suche nach einer Gesellschaft, in der wir leben möchten. „You can create your dream life“, heißt es in ihren Videos immer und immer wieder. Doch was wäre das für eine Welt, in der sich jeder nur noch auf die Verwirklichung seiner eigenen Träume fokussiert?
Ein funktionierendes Miteinander erfordert Kompromissbereitschaft, die Auseinandersetzung mit anderen Ansichten und Meinungen. Und einen Blick, der sich nicht nur auf die eigenen Wünsche und Bedürfnisse richtet.
Kathrin Strobel
Redakteurin Medizin