Kommentar Wo wollen wir investieren?
Das deutsche Gesundheitssystem ist erstaunlich. Das in die Versorgung einfließende medizinische Wissen wächst in atemberaubender Geschwindigkeit, die Bandbreite an technischen Innovationen, die am Patienten und in der Organisation eingesetzt werden, ist beeindruckend. Es gibt zwar schon länger überlastete Praxen und Kliniken mit wenig Personal, in der öffentlichen Meinung wurde das aber bisher eher als „Luft nach oben“ wahrgenommen. Selbst in den härtesten Zeiten von Corona funktionierte das System. Das Stolpern habe viele gar nicht wirklich gemerkt. Auch die Hilfesuchenden aus der Ukraine werden jetzt kompetent versorgt.
Das Gesundheitssystem scheint eine Wundertüte: Immer lässt sich noch etwas daraus hervorzaubern.
Davon sind offensichtlich auch Investoren und Aktionäre überzeugt. Denn gebe es keine Gewinne herauszuholen – und zwar Gewinne, die mehr können als ein Einfamilienhaus, einen guten Lebensstandard und die Studiengebühren der Kinder zu finanzieren –, würden sie nicht hineininvestieren.
Doch die scheinbar unerschöpfliche Leistungsfähigkeit verdankt das System zu einem guten Teil der Selbstausbeutung der in ihm arbeitenden Menschen. Die Pflegenden und ärztlichen Beschäftigten in den Kliniken gehen auf dem Zahnfleisch. Etliche Praxen können ihren Betrieb angesichts steigender Patientenzahlen und -bedürfnisse und wachsender technischer und organisatorischer Anforderungen nur mit deutlicher Anstrengung aufrechterhalten. Und es fallen immer mehr Menschen durch die Maschen des Netzes. Alte, Obdachlose, Sans Papiers, Nicht-Muttersprachler – eigentlich alle, die sich nicht gut für ihre Rechte einsetzen können.
Viele Beschäftigte im Gesundheitssystem sagen deswegen, sie können nicht anders, als sich selbst auszubeuten. In einer Pandemie oder anderen Notlagen mag das eine Option sein. Auf Dauer ist es das nicht. In vielen Einrichtungen werden jetzt weitere „Optimierungen“, die auf Mehrwert zielen, stattdessen Pflegende, Ärztinnen und Ärzte, MFA, Patientinnen und Patienten treffen.
Das Gesundheitssystem braucht Investitionen, richtig. Aber wer investiert, um Gewinne zu erzielen, die Investoren und Aktionäre glücklich machen, investiert nicht in das System, sondern in Gewinne. Deswegen braucht es jetzt Transparenz und sinnvolle Regulierung. Der Preis, den wir sonst dafür zahlen, könnte hoch sein.
Anouschka Wasner
Redakteurin Gesundheitspolitik