Orphan Drugs Fiktiver oder faktischer Zusatznutzen?

Gesundheitspolitik Autor: Cornelia Kolbeck

68 von 95 geprüften Orphans haben keinen quantifizierbaren Nutzen. (Agenturfoto) 68 von 95 geprüften Orphans haben keinen quantifizierbaren Nutzen. (Agenturfoto) © HYUNGKEUN – stock.adobe.com

Hersteller von Medikamenten gegen seltene Erkrankungen profitieren von Marktvorteilen für ihre Produkte, auch bei der frühen Nutzenbewertung. IQWiG-Leiter Professor Dr. Jürgen Windeler sieht darin eine Fehlsteuerung. ­Auch G-BA-Chef Professor Josef Hecken nennt gesetzlichen Änderungsbedarf.

Da es bei seltenen Erkrankungen nur wenige Patienten für Studien gibt und zweckmäßige Vergleichstherapien häufig fehlen, gelten für Orphan Drugs Sonderregelungen mit diversen Erleichterungen hinsichtlich der Zulassung in der EU sowie bei der frühen Nutzenbewertung in Deutschland. Wenn der jährliche Umsatz mit einem Produkt unter 50 Mio. Euro bleibt, muss der Hersteller nicht das reguläre Nutzenbewertungsverfahren durchlaufen. Per Gesetz gilt der Zusatznutzen bei Orphan Drugs generell als belegt. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat nur die Wahl, den Zusatznutzen als gering, beträchtlich, erheblich oder nicht-quantifizierbar einzuschätzen. „Rund ein Drittel der Medikamente, die in den vergangenen fünf Jahren neu auf den Markt kamen, sind Orphan Drugs“, bilanziert der Verband forschender Arzneimittelhersteller.

Das vereinfachte Verfahren ruft seit jeher Kritiker auf den Plan. Eine Auswertung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) im Auftrag des G-BA bestätigt nun die Skepsis. Betrachtet wurden 41 Verfahren (20 Wirkstoffe), für die seit 2011 sowohl eine spezielle Orphan- als auch eine nachfolgende reguläre Nutzenbewertung erfolgte.

Es ist Zeit, nach zehn Jahren das Privileg abzuschaffen

Laut IQWiG ließ sich in 54 % dieser Fälle in der regulären Bewertung kein Zusatznutzen feststellen, obwohl per eingeschränkter Bewertung ein laut IQWiG „fiktiver“ Zusatznutzen bestätigt war.

„Unsere Analyse belegt eine Fehlsteuerung bei den Orphan Drugs“, kommentiert IQWiG-Leiter Prof. Windeler die Ergebnisse. Er sieht politischen Handlungsbedarf: „Zehn Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes zur frühen Nutzenbewertung ist es deshalb Zeit, das Privileg des Zusatznutzens für Orphan Drugs abzuschaffen!“ Auch Arzneimittel gegen seltene Leiden sollten bei Markteintritt eine reguläre – frühe – Nutzenbewertung gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie durch IQWiG und G-BA durchlaufen.

„Die Regelung, dass Orphan Drugs ein solcher Zusatznutzen qua Existenz zugebilligt wird, muss auch angesichts der hohen Markteintrittspreise dringend auf den Prüfstand“, fordert der Vorstand der DAK-Gesundheit ­Andreas Storm. Laut ­AMNOG-Report der DAK haben sich die Kosten für Orphans seit 2011 verfünffacht, von anfangs durchschnittlich 97.000 Euro pro Jahr und Patient bis auf 540.000 Euro im Jahr 2020. Die DAK fordert: Für Orphans sollten spätestens ab dem Markteintritt verpflichtend valide Daten zum Zusatznutzen erhoben werden. Bis die Datenbasis für eine Evaluation des Zusatznutzens ausreicht, sollte ein Interimspreis für Hersteller und Krankenkassen gelten. Storm zeigte sich bei der Vorstellung des Reports zuversichtlich. Das Thema treibe viele Akteure um, auch Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach.

DAK-Reportautor Prof. Dr. ­Wolfgang Greiner von der Universität Bielefeld meint ebenfalls, dass die steigenden Kosten für Orphans das System der nutzenbasierten Aushandlung fairer Preise auf die Probe stellt. „Gleichzeitig sind zunehmend Marktrücknahmen auch von Orphan Drugs zu beobachten.“ Im Regelfall sollte nicht länger auf eine systematische Bewertung von Nutzen und Kosten neuer Therapien als zusätzliche Informationsgrundlage verzichtet werden.

30 Millionen Menschen weltweit betroffen

Mehr als 6.000 seltene Erkrankungen sind bisher weltweit bekannt, oft chronisch und lebensbedrohend. Derzeit betreffen seltene Erkrankungen 3,5 % bis 5,9 % der Weltbevölkerung. Das sind geschätzt 30 Millionen Menschen in Europa und 300 Millionen weltweit. Diese Zahlen nennt die nichtstaatliche Allianz von Patientenverbänden Eurordis.

Laut Prof. Hecken, unparteiischer Vorsitzender der G-BA, befanden sich zum Jahresbeginn 2022 unter 95 geprüften Orphans 68 Arzneimittel mit nicht-quantifizierbarem Nutzen. In diesen 71 % der Fälle sei nicht einmal in einem einzigen Endpunkt der Zusatznutzen nachgewiesen worden. Der G-BA-Chef spricht von einem durch die gesetzlichen Regelungen entstandenen „relativ evidenzfreien Raum“. Pharmazeutische Unternehmer hätten in der Vergangenheit kein Interesse gezeigt, diese Evidenzlücke zu schließen. Im Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung ist seit 2019 eine „Anwendungsbezogene Datenerhebung“ (AbD) verankert. Das ist vor allem für Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen praktisch bedeutsam. Der G-BA kann Herstellern Auflagen zur Vorlage von Daten aus Studien und qualitativ hochwertigen Registern machen. Das hat er bereits getan. Ergebnisse stehen noch aus. Die AbD könne aber nur Ultima Ratio sein, wenn keine höherwertige Evidenz z.B. durch randomisierte kontrollierte Studien zu erwarten sei, so Prof. Hecken. Er zeigt sich zufrieden, dass das Nichteinhalten der Auflagen jetzt auch sanktionsbewehrt ist, Preisabschläge wären möglich.

Ampelregierung plant bereits AMNOG-Anpassungen

Der Unparteiische schätzt die AbD als wichtiges Instrument ein, damit Patienten auf dem neuesten Stand der Wissenschaft behandelt werden können. Auch das Wirtschaftlichkeitsgebot lasse sich durch den bestätigten – nicht den nur behaupteten – Zusatznutzen einhalten. „Die AdB ist ein Mittel, um aus der Blackbox herauszukommen“, so der Unparteiische. Sie könne aber kein Allheilmittel sein, weil das die Kapazitäten sprengen würde. Prof. Hecken hält hinsichtlich der Preiseffektivität bei Orphans weitere gesetzliche Anpassungen für notwendig, u.a. das Absenken der Umsatzschwelle von 50 auf 25 Mio. Euro. Und bei hochpreisigen Medikamenten mit schwacher Evidenz müsse spätestens nach drei, vier Jahren klar sein, ob der Preis gerechtfertigt und der Versichertengemeinschaft zumutbar sei. Laut Koalitionsvertrag planen SPD, Grüne und FDP bereits eine Weiterentwicklung des AMNOG. So sollen die verhandelten Erstattungspreise künftig nicht mehr erst nach einem Jahr, sondern schon ab dem siebten Monat nach Markteintritt gelten.

Medical-Tribune-Bericht

Prof. Josef Hecken, Unparteiischer Vorsitzender des G-BA Prof. Josef Hecken, Unparteiischer Vorsitzender des G-BA © Rosa Reibke / G-BA
Prof. Dr. Jürgen Windeler, Leiter des IQWiG Prof. Dr. Jürgen Windeler, Leiter des IQWiG © IQWiG
Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK-Gesundheit Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK-Gesundheit © DAK-Gesundheit/Weychardt