Für ein kleines Stück vom Lebensglück
Es war ein kalter, aber sonniger Tag, als ich neulich meine Eltern zum ersten Mal nach einem halben Jahr wieder in die Arme schließen konnte. Sie leben, hochbetagt, aber geistig hellwach, in einem Seniorenheim, leider einige hundert Kilometer entfernt. Im Februar bekamen sie ihre zweite Impfung, aber weiterhin wurde ihnen das Essen auf den Zimmern serviert, und es herrschten strenge Besuchsregeln. Dann war es endlich möglich, sie für einen Spaziergang abzuholen, mit ihnen an den Rhein zu schlendern und anschließend eine mittlere Tortenschlacht (natürlich nicht im Café) zu schlagen.
Am nächsten Mittag – wir kehrten gerade von einem weiteren Spaziergang zurück – wehten uns Tangoklänge aus der Seniorenresidenz entgegen. Eine Liveband spielte und vor dem Restaurant war eine Sektbar aufgebaut: Das Restaurant war wegen der hohen Durchimpfungsrate wieder geöffnet worden! Es herrschte eine gelöste Stimmung, die Leute plauderten vor der Restauranttür, und es hätte mich nicht gewundert, wenn jemand ein Tänzchen gewagt hätte. Was für eine großartige Idee, der Wiedereröffnung so einen Rahmen zu geben!
„Wann immer man jemanden auf dem Flur traf“, hatte meine Mutter vorher berichtet, „wollte der gar nicht mehr weitergehen, so viel Gesprächsbedarf hatten alle.“ Sie selbst hatte ja das Glück, die Isolation nicht nur mit meinem Vater, sondern auch mit uns (verbunden durch soziale Medien und das Telefon) zu teilen. Aber viele andere saßen allein in ihren Zimmern, nicht in der Lage, einen Computer oder ein Handy zu bedienen – oder ganz einfach ohne Angehörige, für die sich das gelohnt hätte. Nun aber Partystimmung! Sie hielt bei uns auch noch an, während wir schon wieder auf dem Heimweg waren. Wir hatten buchstäblich erlebt, wie Menschen durch die Impfung ihr Leben zurückbekamen.
Am nächsten Tag kam dann die kalte Dusche: „Nein, Frau Doktor, ich lasse mich auf keinen Fall impfen! Das sollen doch die anderen machen“, beschied mir eine resolute Mittsiebzigerin. Sie war nicht willens, mir den Grund für diese Entscheidung kundzutun (manchmal fehlt es ja nur an Aufklärung). Angesichts des schon avisierten Oster-Lockdowns platzte mir dann einfach der Kragen: „Wir reißen uns hier Tag und Nacht ein Bein aus (ich hätte beinahe einen ordinären Ausdruck gebraucht), um uns um die Erkrankten, die Immer-noch-nicht-Genesenen, die Abstriche, die Impfungen und den ganzen hygienischen Aufwand zu kümmern. Wir riskieren jeden Tag unsere Gesundheit für Menschen wie Sie. Und Sie lehnen die Impfung ab? Aber erwarten selbstverständlich von mir, dass ich mich um Sie kümmere, falls Sie krank werden, bei Bedarf Krankentransport und Intensivbett inklusive? Was denken Sie sich eigentlich?“
Eine rechte Antwort habe ich nicht bekommen. Zwar hatte ich zwei Wochen zuvor eine Impfung mit AstraZeneca erhalten (die ich ohne jegliche Nebenwirkung so gut vertragen habe, dass ich mich gefragt hatte, ob eigentlich nur Wasser in der Spritze war – oder ob ich schon zu alt bin für Nebenwirkungen), aber die erwischt ja nun auch nicht jede denkbare Mutante. Ich fühle mich darum nicht sicher, und das wird auch so bleiben. Aber ich bin dankbar für den Schutz, den ich habe, und für jeden, der sich impfen lässt. Ich möchte die Solidarität, die von mir gefordert wird, von allen, und ich möchte, dass wir alle unser Leben zurückbekommen. Ich möchte Kinder in der Schule und Bars, Restaurants und Läden offen sehen – und ja, ich möchte reisen. Vor allem aber möchte ich diesem Virus so einen auf die Mütze geben, dass es keine weiteren ekligen Mutationen entwickeln kann, denn ich möchte auch meine Eltern und meine Enkel bald wiedersehen.
Wer diese fröhlichen Senioren erlebt hat, der kann sich eher vorstellen, wie viel Lebensqualität wir wiedergewinnen können. Wenn endlich alle dazu beitragen!