Über die Kunst des Heilens
„Zu dem Kardiologen gehe ich nicht mehr!“ Die personifizierte Empörung sitzt mir in der Sprechstunde gegenüber – in Gestalt eines sehr korrekt gekleideten Herrn, Mitte 70, den ich wegen seines schwer einstellbaren Hypertonus beim Kollegen vorgestellt hatte. „Er hat gesagt, ich bin ein überdrehter Linkstyp!“
Ich gebe zu, innerlich musste ich schon ein wenig schmunzeln, da dieser Patient auch im übertragenen Sinn dieses EKG-Befundes keinerlei Ähnlichkeit, weder charakterlich noch politisch, mit einem „überdrehten Linkstyp“ hat. Aber ich kenne auch den kardiologischen Kollegen als ruhigen und zugewandten Vertreter seiner Zunft und frage mich, wie es wohl zu diesem grandiosen Missverständnis kommen konnte. Was ging da schief?
Vielleicht finden wir die Antwort bei seinem kürzlich verstorbenen amerikanischen Kollegen Professor Bernard Lown. Dieser starb am 16. Februar dieses Jahres, wenige Monate vor der Vollendung seines 100. Lebensjahres. Bernard Lown wurde 1921 in Litauen geboren und wanderte 1935 mit seinen Eltern in die USA aus.
Nach ihm benannt ist nicht nur die Klassifikation von ventrikulären Herzrhythmusstörungen nach Schweregrad und Therapiebedürftigkeit. Er erfand auch die Kardioversion zur Behandlungs des Vorhofflimmerns und die Elektrodefibrillation bei Kammerflimmern. Nach Ansicht vieler Kollegen hätte er allein dafür den Nobelpreis verdient. Doch den bekam er nicht für seine medizinischen Erkenntnisse: 1985 erhielt er den Friedensnobelpreis für die zusammen mit dem Russen Yevgeniy Chazov gegründete Organisation „IPPNW – Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs“, der über 200.000 Ärzte und Ärztinnen aus zahlreichen Nationen angehören. Lown war nicht nur ein renommierter Wissenschaftler und Herzspezialist, sondern auch sozial und politisch engagiert. Ein vielseitig interessierter und aufmerksamer Allround-Arzt also.
Doch damit nicht genug: Lown ging es immer um die Verbindung von Wissenschaft und ärztlicher Kunst. Deshalb schrieb er mit über 70 Jahren das Buch „The Lost Art of Healing“, der deutsche Titel lautet „Die verlorene Kunst des Heilens – Anleitung zum Umdenken“. Darin macht er sich viele Gedanken über die Arzt-Patienten-Beziehung, die seiner Meinung nach der Schlüssel, ja sogar die Grundbedingung, für einen Heilungsprozess ist.
Vom Arzt erwartet er, dass er gut zuhören kann, und das nicht nur mit den Ohren, sondern mit allen Sinnen. Besonderen Wert legt er auf die körperliche Untersuchung. Er hält sie für unabdingbar, da sie nicht nur die Arzt-Patienten-Beziehung festigt und grundlegend verändern kann, sondern auch neben diagnostischen Erkenntnissen heilende, tröstende oder optimistische Impulse vermittelt. Die ärztliche Auskunft sollte mit Bedacht getätigt werden, die Wortwahl klar, aber auch „heilend“ sein. Sein ärztlich-philosophischer Grundsatz war: „Der gute Arzt praktiziert die ärztliche Kunst und beherrscht gleichzeitig die Wissenschaft.“ Kunst also statt Reparatur!
In seinem Buch ist auch ein Kapitel der „Kunst, Patient zu sein“ gewidmet. Wie findet ein Patient den Arzt, der zu ihm passt? Wie kann ein Patient auch seinen Arzt unterstützen? Zu einer Partnerschaft gehören schließlich immer zwei! Dass sich Bernard Lown auch über unheilbare Probleme wie Alter, Einsamkeit oder Tod Gedanken machte, sei ebenfalls erwähnt.
Woran es bei dem oben genannten Beispiel lag, dass die Arzt-Patienten-Beziehung nicht gelang, darüber können wir nur spekulieren. Hört der Patient vielleicht schlecht oder nur selektiv? Hat die Formulierung „überdrehter Linkstyp“ eine alte Verletzung, einen Vorwurf oder eine Sorge angetriggert? Oder ist der Patient ein chronischer Meckerer und Choleriker? War der kardiologische Kollege in Hetze? Ging ihm der Patient durch übergenaue Fragen vielleicht auf die Nerven?
Mit vorsichtigen Erklärungen und Beobachtung des weiteren Verlaufs kommen wir dem Grundproblem eventuell näher. Und vielleicht auch ein Schrittchen weiter in Richtung Heilkunst.