Praxiskolumne EU-Verordnung gefährdet Schweigepflicht

Kolumnen Autor: Dr. Günter Gerhardt

Durch die e-Evidence-Verordnung könnten europäische Ermittlungsbehörden u.a. Zugriff auf sensible Patientendaten erhalten – mit teils gravierenden Folgen für Patienten. Durch die e-Evidence-Verordnung könnten europäische Ermittlungsbehörden u.a. Zugriff auf sensible Patientendaten erhalten – mit teils gravierenden Folgen für Patienten. © iStock/4x6

Die e-Evidence-Verordnung steht vor der abschließenden Zustimmung durch den Europäischen Rat – wird sie durchgewunken, droht der Zugriff von europäischen Ermittlungsbehörden auch auf Patientendaten. Ein Warnruf unseres Kolumnisten.

Etwas Hochexplosives steht, liebe Kolleginnen und Kollegen, vor der abschließenden Zustimmung durch den Europäischen Rat: die Verordnung über europäische Herausgabeanordnungen und Sicherungsanordnungen für elektronische Beweismittel in Strafsachen. In der Kurzfassung spricht man von der e-Evidence-Verordnung, was nicht so sperrig und vor allem harmloser klingt. Kern der Verordnung: Die Ermittlungsbehörden aller EU-Staaten sollen europaweit freien Zugriff auf Daten von Internet-Unternehmen erhalten. 

Telekommunikationsprovider, Cloud-Anbieter und Internetdienstleister müssen damit die Daten ihrer Kunden direkt an die Staatsanwaltschaften anderer europäischer Länder herausgeben. Selbst wenn die verfolgte Tat in Deutschland gar keine Straftat ist. Dabei soll kein deutsches Gericht diese Datenweitergabe überprüfen oder verbieten können.

Für uns Ärztinnen und Ärzte ist das ein Ereignis, das wir getrost Zeitenwende nennen können. Denn hier geht es auch um Patientendaten. Und damit um unsere ärztliche Schweigepflicht. Ein Beispiel: Das polnische Abtreibungsrecht ist gerade deutlich verschärft worden. Bald könnte in einem polnischen Verfahren ein polnischer Staatsanwalt auf Daten deutscher Ärztinnen und Ärzte oder Abtreibungskliniken zurückgreifen. 

Etwa über den Cloudanbieter oder den Telekommunikationsprovider. Allein schon die Metadaten, also wer wann mit wem kommuniziert hat, könnten in solchen Fällen belastend sein. 

Auch die Daten von Online-Terminbuchungssystemen, von denen manche sogar Zugriff auf den kompletten Terminkalender einer Praxis oder einer Klinik nehmen und somit Daten speichern von Patientinnen und Patienten, die gar nicht über das Onlineportal kommen, sind vor solchen Abfragen nicht sicher. 

Die polnische Bürgerin könnte dann mithilfe von Daten, die über eine euopäisch legitimierte Anfrage in Deutschland erhoben werden, in Polen verurteilt werden. Und vielleicht müssen sich auch Ärztinnen und Ärzte bald Gedanken machen, welche europäischen Länder ihnen entspannten Urlaub bieten.

Die bereits vom europäischen Parlament verabschiedete  Verordnung blieb – wahrscheinlich wegen Corona – in der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet. Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte haben genauso wie Datenschützende bereits vor mehr als zwei Jahren gewarnt. Vergeblich. Jetzt, wo nur noch der Europäische Rat zustimmen muss, müssen Europas Ärztinnen und Ärzte schnellstmöglich massiv dagegen opponieren, um ihr „Schweigerecht“ – das übrigens in den europäischen Ländern ganz unterschiedlich geregelt ist – zu verteidigen. 

„Anderenfalls wird das Vertrauen der Patienten und Ärzte in die ärztliche Schweigepflicht komplett unterminiert“, warnte kürzlich der Vorsitzende des Weltärzteverbands, Professor Dr. Frank Ulrich Montgomery. Er rät den Mitgliedern des Europäischen Rates, die Verordnung zu kippen bzw. sie zumindest noch in wesentlichen Punkten zu ändern.

Auch die Freie Ärzteschaft warnt schon seit geraumer Zeit vor der Kombination Telematikinfrastruktur und e-Evidence-Verordnung. Die Vizevorsitzende  Dr. Silke Lüder fürchtet die Möglichkeit des direkten Zugriffs auf komplette Patientenakten: „Da alle ärztlichen Daten in Deutschland künftig in Form von elektronischen Patientenakten bei IT-Firmen in der ,Cloud‘ gespeichert werden sollen, sind auch sie nicht mehr vor der Ausforschung durch andere Staaten geschützt. Die ärztliche Schweigepflicht ist dann nur noch Makulatur, das Grundrecht auf Informationelle Selbstbestimmung damit ebenfalls.“ 

Nutzen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihre Kontakte und fordern Sie Ihnen bekannte Politikerinnen und Politiker auf, sich einzusetzen für die Geheimniswahrung und das Vertrauensverhältnis zwischen Ärzten und Patienten. Vielleicht stehen die Zeichen, was das Gehörtwerden betrifft, so kurz vor der Bundestagswahl günstig.