Praxiskolumne Zwischen Digital Native und analogem Grufti
Lässig tippte ich auf meinem Smartphone, buchte eine 4-Fahrten-Karte für die Berliner Verkehrsbetriebe und entwertete eine für die anstehende Fahrt. Ebenso lässig schaute ich anschließend in der S-Bahn meine gespeicherte Netflix-Serie und erledigte ein paar Aktiendeals. Ich wusste zwar, dass ich im Verhältnis zu meinen Söhnen eine digitale Dumpfbacke war, fühlte mich aber trotzdem recht souverän im weltweiten Web. Auch die App für einen E-Scooter hatte ich mir schon heruntergeladen. Nur schwer konnte mich später meine Schwiegertochter davon überzeugen, dass die Fortbewegung mittels Leihroller für eine über 60-Jährige nicht optimal sein könne. Ein Schenkelhalsbruch wäre für die geplante Enkelbetreuung eine denkbar schlechte Ausgangslage.
Zurück in heimischen ländlichen Gefilden erhielt ich meinen elektronischen Heilberufsausweis. Ich hatte ihn schon vor Monaten beantragt und irgendwann mal den Stand der Dinge nachgefragt. Dabei hatte sich herausgestellt, dass ich in irgendeinem Portal irgendeinen Link so lange nicht angeklickt hatte, bis der gesamte Vorgang gelöscht worden war und deshalb noch einmal gestartet werden musste. Beim zweiten Versuch hatte ich den Link rechtzeitig geklickt und nun hielt ich das blaue Kärtchen in der Hand.
Noch voller Großstadtluft und digitalem Selbstbewusstseins öffnete ich die begleitende Mail und las Folgendes: „Bitte beachten Sie, dass diese Vorgehensweise nur funktioniert, wenn Sie bereits ein Upgrade Ihres Konnektors auf einen eHealth-Konnektor (mit Zugriff auf die Telematikinfrastruktur) durchgeführt haben.“
Was sollte ich? Was ist ein Konnektor, und wie überhaupt soll ich meine PIN im Primärsystem initialisieren? Schlagartig schrumpfte ich zu dem Internetwürstchen, das ich im Grunde schon immer gewesen war, und hoffte, dass unsere pfiffigen MFA, die sich schon länger mit der Telematik befassen und deutlich jünger sind als ich, helfen könnten. Ich erinnerte mich an Meldungen, dass die Telematik für einzelne Kollegen und Kolleginnen der letzte Anlass zur Praxisaufgabe gewesen war. Auch bei Twitter hatten einige von ihnen geschrieben, dass sie sich dieser Herausforderung nicht mehr stellen wollten.
Ich hatte darauf mit einem überheblichen Lächeln reagiert und mich gefragt, wie man sich von solchen informatischen Herausforderungen unterkriegen lassen konnte. Jetzt aber verstand ich von Mail und Begleitbrief nur so wenig, dass ich den noch ausstehende PIN-Brief mehr fürchtete als erhoffte.
Der Aktivierungslink in meiner Mail war schon wieder einige Tage alt und die PIN noch nicht eingetroffen, sodass sich zur bereits vorhandenen Ratlosigkeit Zeitdruck gesellte. Der Gedanke: „Lasst mich doch alle in Ruhe, ich mach das nicht mehr mit!“ tauchte zum ersten Mal verführerisch in meinem Hirn auf, zumal dort schon die Gewissheit gespeichert ist, dass unsere Patientendaten in der elektronischen Welt niemals sicher sein werden.
Es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis Informationen über die Hämorrhoiden des Ministers, die Syphilisinfektion des Promi-Fußballers oder die Zwangsneurose der Popsängerin der interessierten Allgemeinheit zugänglich sein werden. Denn wenn Hacker das Pentagon überlisten können, werden sie unser lächerliches eHealth-System erst recht knacken. Welche Erpressungsmöglichkeiten sich hier auftun!
Aber sollte ich wegen all dem in den Ruhestand flüchten? Nein. Die Welt braucht doch Leute wie mich, die ein Bindeglied zwischen Digital Natives und analogen Alten sein können. Also dann, ich geh mich mal einlesen.