Von Mäusen und Menschen
Im März 2020, als die Coronapandemie gerade so richtig Fahrt aufnahm, habe ich mich über einen Tweet geärgert, in dem zu lesen war: „Diese schlimme Zeit macht jetzt hoffentlich auch dem Letzten klar, dass Professoren für Medizin, Chemie und Biologie unendlich viel wichtiger sind, als solche für Genderstudies.“ Es darf gegoogelt werden, wer diesen Tweet verbreitet hat.
Männer und Frauen unterscheiden sich. Männer sitzen gerne in Aufsichtsräten herum. Frauen erkennt man daran, dass sie für gleiche Arbeit weniger Geld bekommen und in Aufsichtsräte außer als Putzfrauen nur sehr schlecht hineingelangen. Neben diesen sozioökonomischen Aspekten unterscheiden sich Männer und Frauen biologisch. Inzwischen wissen wir, dass das Risiko für schwere und tödliche COVID-19-Verläufe bei Männern höher ist als bei Frauen.
Forscher*innen vermuten, dass die hohe Erkrankungsrate ursächlich mit den ACE2-Rezeptoren zusammenhängt, deren Konzentration bei Männern offenbar höher ist als bei Frauen. Auch die Serinprotease TMPRSS in Verbindung mit dem Testosteronspiegel könnte eine Rolle spielen. Dagegen lösen die Vektorimpfstoffe gegen COVID-19 bei Frauen häufiger schwere Nebenwirkungen aus. Geschlechterunterschiede scheinen also gerade ,,in dieser schlimmen Zeit“ wichtig zu sein.
,,Viele Fragen hinsichtlich der Geschlechterunterschiede bei der SARS-CoV-2-Infektion sind derzeit noch ungeklärt“, so das Fazit der Wissenschaftler*innen der Universitäten Bern und Zürich. In der Schweiz werden gerade alle COVID-Erkrankten auf relevante Geschlechterunterschiede untersucht. Die in konservativen Kreisen vielfach dämonisierten Genderstudies versprechen Erkenntnisgewinn. Sie untersuchen Geschlechterverhältnisse sowie differenziertes Geschlechterwissen und wollen Genderkompetenz schaffen. Schließlich erkranken Frauen und Männer anders – das wissen wir nicht erst seit dem Herzinfarkt. Ausgerechnet in der Lehre werden die Symptome von Frauen bei Infarkten aber immer noch häufig als ,,atypisch“ bezeichnet. Der Mann ist nach wie vor medizinischer Standard und Normkörper.
Aus einem Gutachten des BMG geht hervor, dass 70,4 % der Medizinischen Fakultäten ihre Studierenden nur punktuell in einzelnen Lehrveranstaltungen auf Geschlechterunterschiede bei Krankheiten, Symptomen und Therapien aufmerksam machen. Obwohl wir wissen, dass der Zyklus die Medikamentenwirkung beeinflusst, wird in der Arzneimittelentwicklung zu 70 % an männlichen Mäusen geforscht. Später im Verfahren werden diese Arzneimittel dann wieder vor allem an jungen Männern getestet. Frauen sind maximal in einem Drittel der klinischen Studien beteiligt. So werden Mäusemänner zum Problem für Menschenfrauen.
Dass ein Arzneimittel bei Frauen erheblich anders wirkt als bei Männern, wird häufig erst festgestellt, wenn vermehrt Arzneimittelnebenwirkungen vorkommen. So ist beispielsweise die Inzidenz schwerster Metoprololnebenwirkungen bei Frauen dreimal häufiger als bei Männern. Viele Frauen haben nach einer standardisierten Tagesdosis etwa 40 % höhere maximale Plasmakonzentrationen als Männer, durch Einnahme von oralen Kontrazeptiva werden diese nochmals um fast 50 % erhöht.
„Professoren für Chemie“ sind wichtig, aber eben auch Professor*innen für Gendermedizin. Wir brauchen endlich verbindliche Vorgaben für Arzneimittelforschung und klinische Studien und eben nicht nur weiche Soll-Formulierungen und Empfehlungen, wie sie derzeit in den Vorgaben der EMA und der Internationalen Konferenz zur Harmonisierung technischer Anforderungen für die Zulassung von Humanarzneimitteln (ICH) zu finden sind.
Der Mann oder Mäuserich sollte nicht weiterhin das Maß aller Dinge sein.