Corona Kinderimpfung: Wer hat Angst vor „off label“?

Gesundheitspolitik Autor: Anouschka Wasner

Was macht es so problematisch, Kinder unter 5 Jahren zu impfen? Was macht es so problematisch, Kinder unter 5 Jahren zu impfen? © didesign – stock.adobe.com

Einige Ärztinnen und Ärzte impfen Kinder off label gegen Corona. Andere würden vielleicht gerne, sind aber verunsichert, was die Haftungsfragen betrifft. Ein Medizinstrafrechtler sagt, die Klärung einer missverständlichen Gesetzesbegründung könnte das ändern.

Anfang 2021: Der Allgemeinmediziner Dr. Wolfgang von Meißner aus Baiersbronn ärgert sich darüber, dass in seiner Pilotimpfpraxis der nach sechs Entnahmen verbleibende Rest in den Impfampullen weggeworfen werden soll. Er ist eben ein echter Schwabe, wie er lachend erzählt. „Mischen durften wir die Reste nicht. Deswegen haben wir diese siebten Teile, die manchmal keine vollen Dosen mehr waren, mit mehreren Spritzen an Freiwillige verimpft“, erzählt er. Auch sich selbst hat er die Impfung im Januar auf diesem Weg verpasst.

Doch während die Ampullenreste bei Erwachsenen zu einer vollständigen Dosis zusammengespritzt werden mussten, handelte es sich bei den Resten um eine für Kinder mutmaßlich richtige Menge. Im April, als man schon ein paar Erfahrungen gesammelt hatte, impfte Dr. von Meißner mit zwei solcher Dosen seine eigenen Kinder, die jüngste drei Jahre alt.

Dann fragten Kollegen nach Kinderimpfungen, dann ehemalige Kollegen aus dem Krankenhaus und die alten Kommilitonen. Und dann war es die halbe Abteilung einer Universitätsklinik, die sich dafür interessierte – und so fort. Das Team der Regiopraxis „Hausärzte im Spritzenhaus“ habe darüber einen gewaltigen Erfahrungsschatz mit U12 und U5 gesammelt, erzählt Dr. von Meißner.

Off-Label-Use ist bei Kindern nichts Ungwöhnliches

Dass diese Impfungen außerhalb der Zulassung erfolgen, ist dem Arzt klar. Der frühere Kinderanästhesist hat mit Off-Label-Use keine Berührungsängste. Das sei bei Kindern nicht Ungewöhnliches: „Für Kinder in der 33. Woche gibt es auch kein zugelassenes Narkosemittel.“

Der zulassungsüberschreitende Einsatz eines Arzneimittels außerhalb der genehmigten Anwendungsgebiete ist Ärztinnen und Ärzten grundsätzlich erlaubt. Zum Beispiel wenn für die Situation kein Arzneimittel zugelassen wurde – in diesem Fall der Einsatz des Impfstoffes bei einer bestimmten Personengruppe. Als Voraussetzung für den Off-Label-Use von Impfstoffen gilt, dass es um die Prävention einer bedeutsamen Erkrankung geht, dass kein anderer Impfstoff bzw. andere Präventionsmaßnahme zur Verfügung steht und dass die Datenlage Aussicht auf Erfolg verspricht.

Auch Rechtsanwalt Matthias Klein aus Karlsruhe, Fachanwalt für Medizin- und Strafrecht, geht davon aus, dass die Situation eindeutig ist: U5-Kinder dürfen geimpft werden, wenn dies dem Stand der medizinischen Wissenschaft entspricht. Denn: „Der Gesetzgeber hat in der neuen Fassung der CoronaImpfV ausdrücklich klargestellt, dass der Stand der medizinischen Wissenschaft keineswegs gleichzusetzen ist mit dem, was die STIKO emp­fiehlt.“

Empfehlungen anderer renommierter Institutionen dürfen und müssten „auch“ bei der Ermittlung des medizinischen Standards herangezogen werden. Sie seien also gleichwertig, und das nicht abschließend.

Studienergebnisse zeigten, dass der Impfstoff ein hervorragendes Sicherheitsprofil habe

In diesem Zusammenhang verweisen sowohl Klein wie auch Dr. von Meißner u.a. auf die Studie von Biontech/Pfizer zur U5-Impfung, die zuletzt verlängert wurde, um sie um eine dritte Dosis zu erweitern. In der Altersklasse 2 bis 5 Jahren hatten sich die verimpften 3 µg als zu wenig effizient erwiesen.

Unabhängig von der Verlängerung, die jetzt für die Verschiebung der Zulassung sorgt, berichtet die Studie für die gesamte Altersklasse 6 Monate bis 5 Jahre von Sicherheit und Verträglichkeit. „Es ist sehr schade, dass die Studie bislang noch nicht abgeschlossen werden konnte. Das wäre sonst schon vor Weihnachten passiert!“, bedauert Dr. von Meißner. Trotzdem: Die Ergebnisse zeigten, dass der Impfstoff ein hervorragendes Sicherheitsprofil habe.

Herstellerhaftung fällt aus, Arzthaftung greift

Die Frage der Dosierung ist ein Thema, dass man auch mit den Eltern bespreche. Anfangs wurde im Baiersbronner Team mit 10 µg geimpft. Später sei man wie in der Studie auf 3 µg umgeschwenkt. Diesen Kindern würde jetzt eine Nachimpfung angeboten. Heute sei man zu 10 µg zurückgekehrt.

Eine Herstellerhaftung gibt es bei Off-Label-Einsatz der Impfung nicht. Die gibt es nur, wenn der Wirkstoff „bestimmungsgemäß“ verwendet wurde. Die Arzthaftpflicht dagegen greift im vollen Umfang. Dazu hat sich Dr. von Meißner auch mit seiner Versicherung explizit verständigt. „Natürlich müssen wir die Eltern deutlich darauf hinweisen, dass wir off label impfen. Aber da es weltweit keinen anderen Impfstoff gibt, bin ich entspannt. Ich kläre über alle Risiken auf – auch über das Verdünnungsrisiko, darauf weist auch mein Anwalt hin – und dokumentiere das ausführlich. Damit ist der Vorgang vollkommen statthaft und lege artis.“

Was ist mit der Staatshaftung bei Off-Label-Use?

Umstritten scheint dagegen die Frage der Staatshaftung. Rechtsanwalt Klein weist jedoch darauf hin, dass das Gesetz keine Einschränkungen in Bezug auf das Alter vorsieht. Corona-Schutzimpfungen seien „Staatsimpfungen“. In der amtlichen Begründung zur Corona-Impfverordnung der neuesten Fassung werden die Unsicherheiten bezüglich des Off-Label-Gebrauchs bei Kindern und Jugendlichen sogar explizit angesprochen. Der Gesetzgeber wolle also Rechtssicherheit zum möglichen Versorgungsanspruch schaffen.

„Deshalb wurde in § 1 Absatz 2 CoronaImpfV geregelt, dass die Verabreichung des Impfstoffs außerhalb der Zulassung möglich ist, wenn sie nach dem Stand der Wissenschaft medizinisch vertretbar ist“, so der Rechtsanwalt. Die Entscheidung bleibe also den impfenden Ärztinnen und Ärzten überlassen, sofern sie sich nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft richten und diesen individuell anwenden.

"STIKO-Empfehlungen sind kein in Stein gemeißelter Stand der Wissenschaft"

Entsprechend unglücklich findet Rechtsanwalt Klein ein Schreiben des Bundesgesundheitsministeriums von Ende Dezember, in dem es heißt, dass Kinder unter 5 Jahren „nach dem derzeitigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht geimpft werden können“. Zahlreiche KVen hätten diese Information ungeprüft übernommen, was zu einer erheblichen Verunsicherung von Ärztinnen und Ärzten geführt hatte – bis zu dem Punkt, dass Praxen die U5-Impfungen eingestellt haben. Anwalt Klein bleibt dabei: Die aktuelle Coronaimpfverordnung „entlaste“ die STIKO, indem sie darlegt, dass Ärztinnen und Ärzte sich nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft richten müssen. Entgegen verbreiteter Ansicht seien also die STIKO-Empfehlungen keineswegs der in Stein gemeißelte Stand der medizinischen Wissenschaft.

In der Praxis in Baiersbronn nahm die Kinderimpfung im Sommer an Fahrt auf. Biontech war damals nur 120 Stunden haltbar und jeden Freitag wurde „alles, was noch da war“, an Kinder verimpft, 20 bis 25 Kinder am Nachmittag. Das habe sich herumgesprochen. Viele der Kontakte liefen über Twitter. In diesem Zusammenhang sind auch Eltern- bzw. Graswurzelinitiativen entstanden wie U12schutz.de oder bildungabersicher.net, die sich um Aufklärung, Lobbyarbeit und die Vermittlung von Impfterminen kümmern.

Mehrere 1000 Kinder geimpft ohne schwere Nebenwirkung

„Dann kam die Zulassung für die Altersgruppe 5–11 Jahre und wir haben uns im großen Stil getraut. Die U5-Jährigen liefen dabei durchgehend mit“, erzählt Dr. von Meißner. Heute werden in Baiersbronn bis zu drei Kinderimpftage in der Woche angeboten. An manchen Tagen kommen über 500 Kinder aus ganz Deutschland. „Die Familien fahren oft hunderte von Kilometern zu uns“, sagt Dr. von Meißner.

U5 zu impfen bedeutet viel Dankbarkeit von Seiten der Patienten – aber auch sehr viel Aufklärung und zahlreiche Formulare. Anders als bei einer von der STIKO empfohlenen Impfung müssen zudem beide Elternteile zur Impfung in den Details zustimmen. Ein Arzt schafft mit einer MFA 75 Kinder am Tag zu impfen – bei Erwachsenen sind es fünfmal mehr.

Dr. von Meißner und das Team haben mittlerweile mehrere 1000 Kinder off label geimpft, sagt er. Schwere Impfnebenwirkungen haben sie keine beobachtet.

Abrechnung der Impfungen sind kein Problem

Abgerechnet werden die Impfungen ganz normal. „Auch aus Sicht der KV Baden-Württemberg ist in der Impfverordnung an keiner Stelle ein Altersbezug gegeben. Genausowenig wie ein exklusiver Bezug auf die STIKO“, so der Hausarzt. Eine Extra-Ziffer für die Kinderimpfung gibt es nicht. Statistisch erfasst werden die Kinderimpfungen bei der KV über die Geburtsdaten.

Im Dezember sei man mit den Impfterminen auch an die breite Öffentlichkeit gegangen. „Ich weiß immer noch nicht, ob ich das bereuen soll. Nachdem ich Mitte Dezember öffentlich gesagt habe, dass ich eine Impfpflicht für alle befürworte, für die es eine STIKO-Empfehlung gibt, gingen die Angriffe auf die Praxis los.“

Über 200 Strafanzeigen und Abmahnungen gegen attackierende Impfgegner

Anonyme Briefe, Hasskommentare, Morddrohungen und -aufrufe und kurz vor Weihnachten sogar ein „Lichterspaziergang“ von Impfgegnern mit Grablichtern und Fackeln vor der Praxis. „Mein Telefon und das meiner Frau sind mittlerweile direkt mit der Polizei verbunden, sodass wir bei Bedarf umgehend Alarm auslösen können.“ Strafanzeige bzw. Abmahnung lässt der Arzt grundsätzlich stellen, bei jedem Angriff. „Ich habe meinem Anwalt schon rund 200 Vollmachten unterschrieben.“ Die Bedenken, dass sich jemand im Unauffälligen radikalisieren könnte, lassen sich damit zwar nicht ganz ausräumen, doch die Polizeipräsenz um Haus und Praxis lässt nicht zu wünschen übrig.

Überhaupt scheinen dem Arzt die polizeilichen Maßnahmen wirkungsvoll. Kann der Absender eines Schreibens namentlich ermittelt werden, erzählt Dr. von Meißner, können der Person z.B. das Smartphone und Computer weggenommen werden – es muss dann ja ermittelt werden.

"Es gibt keine andere Option, die Kinder zu schützen"

An Rückzug denkt der Impfarzt aus Baiersbronn nicht. „Es gibt keine andere Option, die Kinder zu schützen.“ Deswegen wünscht er sich, dass mehr Kolleginnen und Kollegen mitimpfen. Jeder müsse das tun, was er für medizinisch sinnvoll hält – „Aber mir scheint es wenig sinnvoll, die Kinder mit Omikron zu durchseuchen.“ Und wenn es nur die Angst vor der Haftungsfrage ist, die am Impfen hindert: „Dann wünsche ich mir mehr Zivilcourage!“

Rechtsanwalt Klein wünscht sich, dass der Gesetzgeber die schwer verständliche Gesetzesbegründung sofort klarstellend nachbessert. Das hat er auch in einem Schreiben an das Ministerium und an die KBV im Auftrag der Initiative U12Schutz eindeutig klar gemacht. Beantwortet wurde es bis Redaktionsschluss noch nicht. Die Aussage des Bundesgesundheitsministers, dass U5-Impfungen nicht möglich sind, würde damit hinfällig werden. Und Ärztinnen und Ärzte könnten unabhängig von haftungsrechtlichen Konsequenzen ihrer medizinischen Überzeugung folgen. 

 

Medical-Tribune-Bericht