Impfkampagne und Digitalisierung „Die Politik bremst die Praxen aus“
„Organisationstalent galt mal als deutsche Kernkompetenz, um die uns das Ausland bewunderte. Heute fragen einen US-Amerikaner, warum wir Corona nicht in den Griff bekommen. Nicht die Praxen bremsen den Impffortschritt, sondern Politik bremst die Praxen massiv aus!“, schimpft KBV-Chef Dr. Andreas Gassen über die jüngsten Volten in der hiesigen Pandemiepolitik. „Wem hilft es, wenn wir Vertragsärzte mit Apothekern und Zahnärzten um nicht vorhandenen Impfstoff konkurrieren? Wir stehen schlichtweg mit leeren Händen da. Und das fast ein Jahr, nachdem mit dem Impfen in Deutschland begonnen wurde. Das ist der eigentliche Skandal!“
Sein Vorstandskollege Dr. Stephan Hofmeister erzählt von erschütternden Berichten aus der Kollegenschaft. Danach sind MFA mit langjähriger Berufserfahrung vor ihren Chefinnen oder Chefs weinend zusammengebrochen, und manche hätten gekündigt, „weil sie es nicht mehr aushalten, Tag für Tag immer neue Regelungen erklären zu müssen, ängstliche Menschen zu beruhigen, sich teilweise beschimpfen und bedrohen zu lassen für Dinge, für die sie keinerlei Verantwortung tragen“.
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Reform der Notfallversorgung – der Passus liest sich gut
Vielleicht, so Dr. Gassen, sei es sogar eine gute Idee, die Impfpflicht gegen das Coronavirus zunächst für zwei oder drei Jahre zu beschließen. „Ist Corona dann endgültig endemisch, kann man das verpflichtende Element austauschen gegen eine Empfehlung, wie bei der Influenza.“ Was erwartet die KBV noch von der neuen Bundesregierung? „Vor allem zwei Dinge, die wir in der Pandemie schmerzlich vermisst haben: Verlässlichkeit und Weitsicht“, sagt der KBV-Chef. Als positive Signale der Ampelparteien wertet er z.B. das Bekenntnis zum Bürokratieabbau sowie Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel im Gesundheitswesen. Der Passus zur Reform der Notfallversorgung lese sich vielversprechend, werde doch den KVen hier eine zentrale Funktion zugestanden. Die Koalitionäre greifen auch die KBV-Idee der Integrierten Gesundheitszentren auf. Unklar bleibe jedoch, so Dr. Gassen, ob sie damit eher die weitere Öffnung kleiner Kliniken für die ambulante Versorgung meinten. Im G-BA sollen Entscheidungsprozesse beschleunigt und zugleich weitere Akteure wie die Pflege und andere Gesundheitsberufe mehr Mitsprache bekommen. „Beides unter einen Hut zu bekommen dürfte schwierig werden, wenn die Beratungsverfahren im G-BA nicht grundsätzlich verschlankt werden.“Virtueller Probebetrieb außerhalb der Sprechzeiten
Keine Stärkung der Selbstverwaltung sieht Dr. Gassen auch im angekündigten Ausbau der gematik zu einer staatlichen Gesundheitsagentur. Aus dem 51-%-Anteil des Bundesgesundheitsministeriums würden dann 100 % – und alle Leistungserbringer-Organisationen sowie Kostenträger wären draußen. „Klar ist: Wir brauchen eine vernünftige Strategie, die die Praxen mitnimmt und motiviert, statt eines strafbewehrten Punktekatalogs, bei dem nur technische Meilensteine und Termine abgehakt werden“, betont Dr. Gassen. Die Digitalisierung müsse von der Versorgung her gedacht werden und nicht umgekehrt. „Die Kunst wird sein, heute schon eine Telematikinfrastruktur zu entwerfen, die zu den technologischen Möglichkeiten in fünf, zehn und 15 Jahren passt“, sagt KBV-Vorstandsmitglied Dr. Thomas Kriedel. Die Technik, die die Praxen derzeit installieren müssten, sei jedenfalls bereits veraltet – und funktioniere oft noch nicht einmal.Kodierrichtlinie: halbes Jahr Übergangsfrist eingebaut
Unterfinanzierung bei den TI-Kosten der Praxen
Die KBV stellt auch eine Diskrepanz zwischen den Beträgen fest, die durch die TI-Erstattungspauschalen gedeckt sind, und den Preisen, die die IT-Firmen tatsächlich in Rechnung stellen. Das Ausmaß dieser Unterfinanzierung schwanke je nach Hersteller und Konfiguration. Im Schnitt sei eine Praxis in den letzten vier, fünf Jahren aber wohl auf TI-Kosten von mindestens 9.000 Euro sitzengeblieben, so Dr. Kriedel. Aus Niedersachsen stammen Daten, wonach eine chirurgische Zweier-Gemeinschaftspraxis seit 2018 bei der TI mehr als 14.000 Euro für Soft- und Hardware drauflegte. Die KBV-Vertreterversammlung hat den Vorstand beauftragt, bei den Krankenkassenverbänden eine komplette Refinanzierung der den Praxen für die TI-Einführung entstandenen Kosten einzufordern, auch für die in den letzten Jahren nicht ausgeglichenen Kosten. Dr. Kriedel verweist darauf, dass im kommenden Jahr der Einsatz der ersten Konnektoren abläuft, sie also funktionsuntüchtig würden und vermutlich ausgetauscht werden müssten. „Hierfür brauchen wir unbedingt eine ausreichende Finanzierungsvereinbarung.“ Bei Nichteinigung mit den Kassen will die KBV das Schiedsamt einschalten. Dr. Kriedel erinnert auch daran, dass am 1. Januar 2022 die nächste Stufe der IT-Sicherheitsrichtlinie in Kraft tritt. Mit Blick auf die Gefahr von Cyberangriffen, die tagelang das IT-System einer Praxis lahmlegen könnten, appelliert er an die Ärzte: „Schützen Sie Ihren Praxisbetrieb und holen Sie sich fachkundige Dienstleister an Ihre Seite“ – auch um im Fall einer Attacke direkt Hilfe rufen zu können.Quelle: KBV-Vertreterversammlung