Vierte Welle Spahn bedauert unzureichende kommunikative Wirkung
Die kontroversen Ansichten zur Coronapolitik wurden wohl am besten in der Bundestagsdebatte zum geänderten Infektionsschutzgesetz deutlich, das letztlich gegen die Stimmen von CDU/CSU sowie AfD und bei Enthaltung der Linken von der Ampel-Mehrheit gebilligt wurde.
Die Union warnte davor, die Regelungen zur epidemischen Lage von nationaler Tragweite nicht über den 25. November hinaus fortzuführen angesichts steigender Inzidenzen und zunehmend be- oder überlasteter Intensivstationen. „Die Zahlen gehen hoch und Sie reduzieren die Maßnahmen“, wetterte Unionsvertreter Stephan Stracke im Parlament. Das könne nicht gut gehen. Dem widersprach die SPD-Abgeordnete und Ärztin Sabine Dittmar. Die Länder hätten mit dem Gesetz „mehr Möglichkeiten effizienten Handelns“ als zuvor. Als scharfes Schwert in der Pandemiebekämpfung lobte auch die FDP das neue Gesetz, dem in einer Sondersitzung kurzfristig auch die Länderkammer zustimmte.
Beschlossen wurde von den „Ampel“-Parteien SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP ein neuer bundesweit anwendbarer Maßnahmenkatalog. Dieser erlaubt das behördliche Anordnen von Abstandsgeboten im öffentlichen Raum, Kontaktbeschränkungen im privaten und öffentlichen Raum, Maskenpflicht sowie die Pflicht zur Vorlage von Impf-, Genesenen- oder Testnachweisen, Personenobergrenzen bei Veranstaltungen, Auflagen für den Betrieb von Gemeinschaftseinrichtungen wie Hochschulen oder der Erwachsenenbildung sowie das Verarbeiten von Kontaktdaten von Kunden, Gästen oder Teilnehmern einer Veranstaltung. Das Schließen von Einrichtungen ist im Einzelfall auch erlaubt, nicht aber ein bundesweiter Lockdown. Letzteres betonten die Koalitionäre in spe deutlich.
Per Übergangsregelung ist den Ländern jedoch gestattet, bereits beschlossene Maßnahmen bis zum 15. Dezember 2021 beizubehalten. Diese Chance nutzen einzelne Länder derzeit, weil die Eskalation der Lage vor Ort drastisches Eingreifen erfordert.
Jens Spahn, noch geschäftsführender Bundesminister für Gesundheit, sieht Deutschland in einer schwierigen, wenn nicht sogar in der schwersten Lage in dieser Pandemie.: „Es ist 10 nach 12!“ Eindringliche Warnungen kommen auch von Professor Dr. Lothar H. Wieler, Präsident des Robert Koch-Institutes (RKI): „Ganz Deutschland ist ein einziger großer Ausbruch. Das ist eine nationale Notlage, wir müssen jetzt die Notbremse ziehen.“
Eine große Herausforderung: Überzeugen, Impfen, Boostern
RKI-Chef: Wir haben immer rechtzeitig gewarnt
Bayern und Sachsen waren die ersten, die auf die Bremse traten. Von verhältnismäßigen Maßnahmen spricht der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer hinsichtlich der von CDU, Grünen und SPD im Land beschlossenen Notfallverordnung, die Ausgangsbeschränkungen von 22 bis 6 Uhr für Ungeimpfte und Nicht-Genesene in Hotspot-Regionen vorsieht. Alle körpernahen Dienstleistungen sind untersagt, eine Ausnahme bilden Friseure. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hatte schon am 11. November den Katastrophenfall für den Freistaat ausgerufen. Die Krankenhausampel steht hier auf Rot. Patienten werden bereits nach Italien verlegt. Bayern sucht angesichts der Infektionsdynamik einen Weg zum „Blocken. Bremsen. Boostern“. Landesweit gelten Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte (max. fünf Personen ab zwölf Jahren aus zwei Haushalten) sowie für Hotspots mit einer 7-Tage-Inzidenz über 1.000 diverse Einschränkungen. Professor Dr. Franz C. Mayer, Rechtsexperte der Universität Bielefeld, verwies gegenüber „ZDF heute“ darauf, dass mit Auslaufen der pandemischen Lage nationaler Tragweite viele Maßnahmen nicht mehr möglich seien. Ausgangssperren gebe es nicht mehr, auch Einzelhandel und Reisen könnten nicht mehr beschränkt sowie Kitas und Großveranstaltungen nicht mehr geschlossen werden. „Jede Menge Verbote sind verboten.“ Das Ganze sei jedoch Teil eines Kompromisses, der beinhalte, dass alles nur bis zum 15. Dezember gelte. Wer ist schuld an der eskalierenden Lage? Bei der Beantwortung diese Frage schieben sich die Parteien gegenseitig den schwarzen Peter zu. Das RKI habe jede der vier Wellen rechtzeitig vorausgesagt, rechtfertigt sich Prof. Wieler. Am 8. Juli sei eine Modellierung publiziert worden und darauf aufbauend wäre das RKI-Strategiepapier „ControlCOVID“ überarbeitet worden. Im Juli sei notiert worden, dass jetzt Boosterimpfungen geplant und vorbereitet werden sollten und die Bevölkerung über mögliche Szenarien für den Herbst zu informieren ist. Es sollte ein Monitoring geben zu Impfbereitschaft, Ausbruchsgeschehen und zum Einhalten von Basismaßnahmen durch Geimpfte und Genesene. Das Papier erwähnte auch kontaktreduzierende Maßnahmen und dass sich Altenpflegeheime mit einer systematischen Teststrategie auf den Herbst vorbereiten sollten. Spahn zeigt sich inzwischen selbstkritisch: Er hätte früher und deutlicher auf die mögliche Entwicklung hinweisen müssen. Vieles sei allerdings auch beschlossen worden, etwa im August das Boostern. Jedoch mit offenbar unzureichender kommunikativer Wirkung. Bund und Länder hätten zu lange gezögert, ist von vielen Seiten zu hören. Und auch die jüngsten Beschlüssen werden vielfach skeptisch gesehen. Die Ministerpräsidentenkonferenz beispielsweise hat das notwendige Handeln an die Hospitalisierungsrate im jeweiligen Bundesland gebunden. Weil die Zahlen zur Klinikbelegung aber verzögert kommen und als Frühwarnindikator nicht optimal sind, erwarten Spahn und Prof. Wieler, dass die Länderexperten vorausschauend „eher früher als später Maßnahmen treffen“, also nicht warten werden, bis die Corona-Ampel knallrot ist. Es gebe drei wichtige Faktoren für die Belastung des Gesundheitssystems so Prof. Wieler: die Inzidenz, die Hospitalisierung sowie die Belegungsrate auf den Intensivstationen. Das hätten die Leute in den Ländern im Blick.Probleme bei Umsetzung föderaler Regeln ungelöst
Der Industrieverband BDI befürchtet z.B., dass mit den Beschlüssen das Umsetzungsproblem bei der föderalen Coronabekämpfung nicht gelöst ist. Selbst eine Impfpflicht für medizinische Berufe oder sogar für alle wird inzwischen von immer mehr Menschen befürwortet. Sich impfen zu lassen, sei Bürger- und Solidarpflicht, das liege längst nicht mehr im Ermessen des Einzelnen, wird argumentiert. Spahn bleibt bezüglich einer verpflichtenden Impfung skeptisch. Aber in dem Moment, in dem die (Ampel-)Mehrheit im Bundestag das Bundesministerium für Gesundheit bittet, einen entsprechenden Gesetzentwurf zu erarbeiten, werde er als geschäftsführender Minister das natürlich tun. Bisher kommt seitens der Ampel Zuspruch für eine Impfpflicht bei Gesundheitsberufen. Eine allgemeine Impfpflicht, wie von Markus Söder gefordert, wird aber strikt abgelehnt.Medical-Tribune-Bericht