Kommentar Kollaps oder Krawall?
Überbordende Bürokratie, unzureichende Vergütung und Probleme bei der Digitalisierung: KBV und Bundesärztekammer nehmen die Missstände in der ambulanten Versorgung mal wieder zum Anlass, eine Kampagne zu starten. Politik und Gesellschaft sollen erkennen, dass die wohnortnahe Versorgung bedroht ist.
Das ist sie unbestritten – aber schon wieder eine Kampagne für mehr Geld und weniger Formulare und Computerabstürze? Müsste man nicht vielmehr mal dafür sorgen, dass es genug Ärztinnen und Ärzte gibt? Mehr Studienplätze einrichten, mehr Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausland einladen? Wird hier vielleicht nur Krawall zugunsten des Berufsstandes geschlagen?
Auf dem Kongress der DGIM analysierte ein Ärztekammervertreter die kommende Versorgungslage. Er kam zu der Aussage, dass wir allein um den Status quo an ärztlicher Versorgung zu halten, ein Drittel mehr Studienplätze benötigen würden. Studienplätze wollte der Gesundheitsminister gerade möglich machen. Jetzt wurden sie wieder gestrichen. „Aber warum?“, möchte man rufen. „Da ist doch die Lösung!“
Ist sie das? Die Versorgungslücke, die wir fürchten müssen, wird uns erreichen, wenn sich die Babyboomer in den Ruhestand verabschieden und eine deutlich kleinere Zahl an nachkommenden Ärztinnen und Ärzten sie ersetzen soll. Der eigentliche Ärztemangel kommt also erst noch, und zwar in den nächsten zehn Jahren. Danach könnte sich die Lage sogar wieder entspannen, so der Referent, weil dann ausländische Kolleginnen und Kollegen nachrücken. Das heißt aber: Gegen den sich ankündigenden Mangel helfen keine Studienplätze, die heute geplant werden.
Was bleibt uns also? Die „wenigen“ ärztlichen Kolleginnen und Kollegen, die wir haben, müssen effektiv arbeiten können. Und dazu braucht es Bürokratieabbau, weniger technische Probleme und eine höhere Attraktivität des Arztberufes, um Abwanderungen zu bremsen.
Auf den ersten Blick mag die Kampagne also nur ein Aufwärmen der immer wiederkehrenden Kollaps-Prophezeiung sein (Katastrophen laufen ja prima). Einige Standesvertreter mögen auch zu Dramen und niedrigen Jammerschwellen neigen. Aber: Es geht hier nicht nur um die Interessen einer Berufsgruppe. Medizinische Versorgung ist ein gesellschaftliches Grundbedürfnis. Drohen Mängel, muss man das der Gesellschaft vor Augen führen. Zu wünschen ist, dass Populismus und Selbstreferentialität dabei keinen Platz haben. Und stattdessen der Blick auf weitere Aspekte der Versorgungssicherung geweitet wird - wie etwa auf Ökonomisierung in der Medizin, Delegationsmöglichkeiten und Verteilungsgerechtigkeit.
Anouschka Wasner
Redakteurin Gesundheitspolitik