Kommentar In der Stunde des Wolfs
Klingt dramatisch – ist es auch. Zumindest für diejenigen, die es durchleben. Stunde des Wolfs, so nennen Schlafforscher die Zeit zwischen 3 und 4 Uhr nachts, wenn eigentlich nur die Wölfe wach sind. Und eben ein paar verzweifelte Menschen auf der Suche nach Schlaf. Viele kennen das Phänomen: Wir wachen nachts auf, an Müdigkeit mangelt es definitiv nicht, und trotzdem liegen wir wach, wälzen nicht nur uns selbst, sondern auch unsere negativen Gedanken hin und her. Was man tagsüber noch als Problemchen bewertet hat, wird nachts zum schlafraubenden Schreckensszenario.
Ich habe alles unternommen, um mich gegen die Wolfsstunde zu wehren. Ich habe mich an einen Strand meditiert, auf die Atmung konzentriert, springende Schäfchen phantasiert. Nichts half. Bis ich schließlich doch die Lösung fand. Die dunkle Macht der Wolfsstunde lässt sich mit plausibler Naturwissenschaft bekämpfen, denn sie fußt auf einer simplen biologischen Ursache. Während das Melatonin nachts seinen Peak erreicht, sinkt das Serotonin auf einen zirkadianen Tiefpunkt, ebenso das Cortisol. Das führt insgesamt dazu, dass jeder Mensch in eine kleine, ganz natürliche nächtliche Depression fällt. Während dieser hormonellen Konstellation sind wir nicht in der Lage, die Ereignisse und Gedanken realistisch zu bewerten und die sprichwörtliche Mücke wird zum Elefanten, oder in diesem Fall eben zum Wolf.
Mir hat es geholfen, um die hormonellen Grundlagen der Wolfsstunde zu wissen. Mir bewusst zu machen, dass die biologischen Grundvoraussetzungen für zielführende, nicht-emotionale Überlegungen gerade nicht gegeben sind, hilft mir, das Gedankenkarussell abzustellen und das Problemwälzen zu beenden. Zugegeben, das klappt mal mehr, mal weniger gut. Aber man könnte sagen, der Wolf ist bezwungen und zum kleinen Schoßhündchen degradiert. Bei der Bezeichnung „Wolfsstunde“ bleibe ich aber trotzdem – „Stunde des Chihuahuas“ klingt einfach seltsam.
Yvonne Emard
Redakteurin Medizin