Schmerzmedizin Medikamentöse Therapie abhängig vom Einzelfall
3 Millionen Menschen in Deutschland leiden an chronischen Schmerzen. Doch die ärztliche Versorgung ist vielfach verbesserungswürdig. Das mahnen Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) an.
Länger als sechs Monate dauernde chronische Schmerzen schränkten die Lebensqualität und die persönliche Freiheit der Betroffenen ein, betont DGS-Präsident Dr. Johannes Horlemann. Die Medizin müsse dann nicht nur im Sinne der Schmerzbefreiung behandeln, sondern Patienten auch ganzheitlich, bio-psychosozial unterstützen. Dafür sei ein Facharzt für Schmerzmedizin notwendig, so Dr. Horlemann. Man dürfe das Thema auch nicht der ärztlichen Selbstverwaltung überlassen, die Politik müsse die gesetzlichen Rahmenbedingungen schaffen. So sei die intersektorale, interdisziplinäre und multimodale Versorgung zu stärken. Und Ärztinnen und Ärzte bräuchten mehr Zeit für das Gespräch mit den Patienten.
Politische Unterstützung zugesagt
Beim Schmerz- und Palliativtag sagten die Bundestagsabgeordneten Prof. Dr. Armin Grau (Grüne) und Prof. Dr. Andrew Ullmann (FDP) den Schmerzmedizinern Unterstützung zu. Prof. Grau will sich dafür einzusetzen, dass die Bedarfsplanung die Schmerzmedizin künftig berücksichtigt, so wie im „Gutachten zur Weiterentwicklung der Bedarfsplanung“ des G-BA empfohlen. „Überall, wo Patienten Schmerztherapeuten brauchen, sollen sie diese auch vorfinden.“ Prof. Ullmann geht davon aus, dass durch ein Berücksichtigen der Zusatzbezeichnung in der Bedarfsplanung auch die Praxisnachfolge besser gesichert werden kann.
Im Einzelfall neigten die Erkrankten zu einer ausdrucksstarken, emotionalen Darstellung der Schmerzen, da diese in ihrem Erleben eine zunehmende Bedeutung erhalten, erläutert der in Kevelaer niedergelassene Schmerzspezialist weiter. Sie würden in eine Schonhaltung gezwungen, gefolgt von Muskelabbau, Immobilisation und sozialem Rückzug. Oft würden die Patienten dann zur Selbstmedikation greifen und benutzten Alkohol sowie andere Drogen, um zu einer adäquaten Schmerzkontrolle zu kommen.
Dr. Horlemann beschreibt den Fall einer Hausfrau mit 96 Kilogramm Körpergewicht, 169 Zentimetern Körpergröße und mehr als 20 Jahren Schmerzerfahrung. Behandelt wird die Patientin im Rahmen der klassischen Familienmedizin. In die Schmerzsprechstunde kam sie mit Beschwerden in allen großen Gelenken, Weichteilschwellungen, Rückenschmerzen. Sie lief vornübergebeugt. Die Anamnese ergab diverse Erkrankungen, u.a. Herzinsuffizienz, Blutdruck, Hypercholesterinämie, Diabetes Typ 2, diabetische Polyneuropathie. Dr. Horlemann berichtet auch von einer langen Medikamentenliste.
Mischung von Hilflosigkeit und Nicht-Kommunikation
Im ICD-10-Katalog sei der chronische Schmerz zwar seit Jahren als chronische bio-psychosoziale eigenständige Erkrankung enthalten. Die typischen Patienten würden jedoch in Leitlinien bzw. in der Studienlage oder Grundlagenforschung kaum abgebildet, kritisiert der DGS-Präsident. Die Leitlinien in der Schmerzmedizin seien meist monothematisch bzw. auf eine bestimmte Erkrankung ausgerichtet. Das gesamte Umfeld wie bei der erwähnten Patientin mit den kardiovaskulären Implikationen thematisierten sie nicht.
„Ich kenne überhaupt keine Leitlinie, die mit der Vielzahl dieser Themen fertig werden würde“, so Dr. Horlemann. Ein mitbehandelnder Orthopäde habe der Frau dann noch Steroide gespritzt, trotz bestehendem Diabetes. Der Arzt sieht in dem Fall „das ganze Kaleidoskop von Hilflosigkeit und Nicht-Kommunikation unter den Behandelnden“. Und das sei keine Ausnahme, sondern eher die Regel. Das Dilemma ist laut Dr. Horlemann, dass man in der Schmerzmedizin zu wenig weiß. Nötig seien deshalb eine Versorgungsforschung, die der Realität der Patienten entspreche, und Leitlinien, die praxisnah sind. Nutzen ließen sich dafür auch Daten aus dem „Praxisregister Schmerz“ der DGS.
Schmerzbefreiung ist nicht für jeden das wichtigste Ziel
Die medikamentöse Therapie chronischer Schmerzen hänge vom Einzelfall ab, so der Arzt. „Für manchen ist das Ziel die Schmerzbefreiung. Für einen anderen muss der Schmerz gar nicht geringer werden, wenn er nur endlich eine Nacht durchschlafen oder sich besser bewegen kann.“ Das Motto des Kongresses „Individualisierung statt Standardisierung“ zeige: Es gebe keinen Standard in der Schmerzmedizin – bei keiner einzigen Indikation. Es gebe nur Interventionen, bei denen sich die Medizin in Demut vor den Patienten verneigen könne.
Kongressbericht: Deutscher Schmerz- und Palliativtag 2022