Massentierhaltung Reserveantibiotika weiterhin Futterzusatz
Nach Angaben des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) wurden 2019 rund 670 Tonnen Antibiotika in der Tiermedizin in Deutschland eingesetzt. In der Humanmedizin waren es 339 Tonnen.
Eines der meistgenutzten Antibiotika in der Massentierhaltung ist dem BVL zufolge das Reserveantibiotikum Colistin mit 74 Tonnen, gefolgt von Makroliden mit 59 Tonnen. Insgesamt, so das BVL, wurden bei Puten und Hühnern zu über 40 % Reserveantibiotika eingesetzt.
Dem massenhaften Einsatz dieser Mittel wollten zahlreiche EU-Abgeordnete, Vertreter von Umweltorganisationen und der Ärzteschaft, darunter die Bundesärztekammer (BÄK) und der Weltärztebund, einen Riegel vorschieben. Mit einer vom Europaabgeordneten der Fraktion der Grünen/EFA Martin Häusling über den Umweltausschuss eingebrachten Entschließung gegen den Vorschlag der EU-Kommission für eine neue EU-Tierarzneimittelverordnung sollte die bisherige Praxis der Antibiotikagabe in der Tiermedizin beendet werden. Doch der Einspruch scheiterte am Widerstand der Mehrheit des Europaparlaments.
Bundesärztekammerpräsident warnt vor fatalen Folgen
„Das EU-Parlament hat es versäumt, die Gesundheit von Menschen endlich über die Profitinteressen der Fleischindustrie zu stellen. Die konservativ-liberale Mehrheit setzt das Herumeiern der EU-Kommission fort und riskiert damit, dass Reserveantibiotika wie bisher auch massenhaft ins Futter und Wasser gemischt und an Zehntausende Tiere in industriellen Massentierhaltungen verabreicht werden“, kritisiert Sascha Müller-Kraenner, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe (DUH), den Beschluss.
Und auch BÄK-Präsident Dr. Klaus Reinhardt warnt davor, dass es, sollte die Verordnung – wie von der EU-Kommission geplant – Ende Januar 2022 in Kraft treten, bald keine wirksamen Reserveantibiotika für die Behandlung von schweren Erkrankungen bei Menschen mehr geben werde. Die Folgen wären fatal. Bereits heute sterben EU-weit jährlich rund 33.000 Menschen an Infektionen, gegen die keine Antibiotika mehr helfen.
Zwar sieht der von der EU-Kommission vorgelegte Vorschlag ebenfalls eine Reglementierung des Einsatzes von Antibiotika in der Tiermast vor. Nach dem Willen der Brüsseler Behörde soll die Liste der Reserveantibiotika allerdings keine konkreten Wirkstoffgruppen beinhalten, sondern lediglich Kriterien für deren Auswahl, wie eine hohe Bedeutung für die menschliche Gesundheit und ein „nicht-essenzieller“ Bedarf in der Tiermedizin.
Den Kritikern der geplanten Regulierungen war diese Formulierung zu vage. Sie fürchten, dass sich dadurch an der Praxis der industriellen Tierhaltung nichts ändern wird. Im Fokus der Kritik steht vor allem die sog. Metaphylaxe, bei der nicht nur kranke, sondern auch sämtliche gesunde Tiere antimikrobiell behandelt werden, um eine Ausbreitung von Infektionen in den Beständen zu verhindern. Hiervor machen die Mastbetriebe regen Gebrauch.
Pillen vor die Säue
Rupert Ebner/Eva Rosenkranz: „Pillen vor die Säue“, 256 S.,
Verlag: oekom (2021), ISBN-13: 978-3-96238-206-3, Buch: 20 €, ePub 15,99 €
Auf der Suche nach einem „One-Health-Konzept“
Ein vom Verein Ärzte gegen Massentierhaltung und der DUH in Auftrag gegebenes juristisches Gutachten widerlegt diese Behauptung. „Es ist beschämend, wie hier versucht wird, Tierfreundinnen und -freunden Angst zu machen, ihre geliebten Katzen oder Hunde würden gefährdet“, konstatiert DUH-Agrarexpertin Reinhild Benning. Das Interesse einiger Tierärztinnen und -tierärzte, die bis zu 78 % ihres Umsatzes durch den Verkauf von Tierarzneimitteln scheffelten, sei dabei so durchschaubar wie unmoralisch, so Benning. Dass Infektionen und die Bildung von Resistenzen nicht nur durch eine direkte Übertragung vom lebenden Tier auf den Menschen entstehen können, sondern auch durch Krankheitserreger auf Fleischerzeugnissen und anderen Lebensmitteln, ist inzwischen gut belegt. Jüngster Beweis ist ein Gutachten der Universität Greifswald im Auftrag der DUH. Die Forscher konnten nachweisen, dass sich auf jeder dritten bis vierten Probe von in Discountern erworbenem Putenfleisch Krankheitserreger befanden, die gegen Antibiotika resistent sind. Als besorgniserregend hoch stufte das Gutachten insbesondere die Rate der Keime ein, gegen die selbst Reserveantibiotika nicht mehr wirken. Eine Übertragung von Antibiotikaresistenzen über kontaminierte Lebensmittel auf die Konsumenten ist auch aus Sicht von Professor Dr. Christian Menge, Fachtierarzt für Mikrobiologie und Leiter des Instituts für Molekulare Pathogenese am Friedrich-Loeffler-Institut in Jena, unzweifelhaft. Prof. Menge zählt zu jenen Wissenschaftlern aus der Veterinär- und Humanmedizin, die sich bereits seit Jahren im Rahmen des von der Weltgesundheitsorganisation, der EU und zahlreichen Regierungen geforderten „One-Health-Ansatzes“ darum bemühen, Strategien und Therapieoptionen zu entwickeln, die dazu beitragen sollen, Infektionsketten frühzeitig zu unterbrechen und Infektionen zu verhindern. So hat das Konsortium „Infect-Control“, dem Prof. Menge angehört, z.B. ein Modul entwickelt, mit dem Studierende der Humanmedizin für mögliche Übertragungswege von Resistenzgenen zwischen Menschen, Tieren und der Umwelt sensibilisiert werden sollen. Prof. Menge räumt gleichwohl ein, dass es trotz zahlreicher Forschungsbemühungen bislang kein umfassendes, anwendungsbereites One-Health-Konzept gibt. Dennoch dürften Antibiotika nicht dazu dienen, landwirtschaftliche Managementfehler auszugleichen, so der Wissenschaftler. Hier sei global ein Umdenken, insbesondere bei der Metaphylaxe von Tierkrankheiten, dringend notwendig, fordert er.Medical-Tribune-Bericht