Schulgesundheitsfachkräfte In zehn Jahren bundesweiter Standard?
Eltern schulpflichtiger Kinder kennen diese Anrufe aus dem Schulsekretariat: „Ihr Kind hat Bauchschmerzen, bitte holen Sie es von der Schule ab!“ Weil es vor Ort kein medizinisch ausgebildetes Personal gibt, bleibt Schulen kaum eine andere Möglichkeit, als die Eltern zu kontaktieren. Während solche Zwischenfälle bei gesunden Kindern eher selten sind, müssen die Eltern von Kindern mit chronischen Erkrankungen wie Typ-1-Diabetes deutlich häufiger fürchten, aus dem Arbeitsalltag gerissen zu werden.
In Stuttgart geht man seit Februar 2021 einen anderen Weg. Im Rahmen des Modellprojekts „Schulgesundheitspflege“ kümmern sich im Auftrag des städtischen Gesundheitsamts vier Schulgesundheitsfachkräfte um die Gesundheit der Schüler*innen. An zwei Schulstandorten mit insgesamt sechs Schulen beraten und begleiten sie Kinder mit chronischen Erkrankungen, kümmern sich um die allgemeine psychische und physische Gesundheit der Schüler*innen und bieten Erstversorgung bei Verletzungen während des Schulbetriebs.
Das Ziel in Stuttgart: die Verstetigung des Projekts
Das von der Eduard Pfeiffer-Stiftung, der Stiftung Zukunft der Jugend, der Unfallkasse Baden-Württemberg und dem Land Baden-Württemberg geförderte Modellprojekt ist zunächst auf drei Jahre angelegt und läuft Ende März 2024 aus. Ob es weitergeht, hängt auch von der Kassenlage ab. In Brandenburg war es in einem vergleichbaren Projekt 2021 nicht gelungen, die Weiterfinanzierung auf Landesebene sicherzustellen. Allerdings übernehmen dort nun einzelne Kommunen die Kosten. Anders in Hessen: Hier hat man nach Abschluss des ersten Modellprojekts die Zahl der unbefristet eingestellten Schulgesundheitsfachkräfte sogar aufgestockt.
Damit es auch in Stuttgart nach dem Stichtag Ende März 2024 weitergeht, setzt das dortige Gesundheitsamt derzeit alle Hebel in Bewegung, um eine „Verstetigung“ des Projekts zu erreichen, also die dauerhafte staatliche Finanzierung. „Ich habe noch nie ein Projekt im Gesundheitswesen begleitet, das so gut angenommen wurde“, erklärt der Leiter des Stuttgarter Gesundheitsamts, Professor Dr. Stefan Ehehalt.
Dankbar sind zum einen die Lehrkräfte: „Sie haben im heutigen Schulsystem immer mehr zu tun, müssen wahre Tausendsassa sein und werden durch die Schulgesundheitsfachkräfte deutlich entlastet“, berichtet Prof. Dr. Ehehalt. Bei diesen handelt es sich häufig um erfahrene Kinderkrankenschwestern, für die eine Schule mit ihren geregelten Arbeitszeiten zudem ein durchaus attraktives Tätigkeitsfeld ist. Sinnstiftend ist ihre Arbeit allemal – schließlich können etliche Schüler*innen mit chronischen Erkrankungen dank ihrer Hilfe überhaupt erst wieder ganz regulär am Schulunterricht teilnehmen.
Es profitieren Kinder, Eltern, Lehrer – und Kinderärzt*innen
Beispielsweise ein Kind, das aufgrund einer Hauterkrankung regelmäßige Verbandwechsel benötigt. Oder eines mit Typ-1-Diabetes, dessen Glukosewerte jemand im Blick behalten sollte und das in der Schulkantine Hilfe braucht. Allesamt Leistungen, für die sich aufgrund des erheblichen Fachkräftemangels kaum noch ein Pflegedienst oder andere Hilfskräfte finden lassen.
In der Klasse eines Kindes mit Typ-1-Diabetes organisierte die Schulgesundheitsfachkraft Unterrichtseinheiten zum Thema Diabetes, „und danach war das Kind viel besser integriert und ging deutlich offener mit seiner Erkrankung um“, erzählt der Behördenleiter. Doch auch alle anderen Kinder, z.B. mit einem aufgeschürften Knie, werden medizinisch versorgt. Die Schulgesundheitsfachkräfte können auch auf ihrem Diensthandy erreicht werden. Die Schüler*innen müssen nicht zwingend abgeholt werden und verpassen deutlich weniger Unterricht.
Zahlen und Fakten rund um das Stuttgarter Projekt
- 3.000 Schüler*innen in Stuttgart erhalten gesundheitliche Unterstützung im Rahmen des Modellprojekts Schulgesundheitspflege.
- Seit Projektstart kamen die Schulgesundheitsfachkräfte 5.048 Mal zum Einsatz. Das entspricht 10 Kontakten à 16 Minuten pro Schulgesundheitsfachkraft und Tag.
- 74 % der Zeit versorgten sie akute, in 6–7 % der Zeit chronische Erkrankungen. In der restlichen Zeit kümmerten sie sich um Elternabende, Erste-Hilfe-Kurse oder andere schulinterne Gesundheitsprojekte. In 82,7 % der Fälle konnten die Kinder nach Konsultation der Schulgesundheitsfachkraft wieder am Unterricht teilnehmen.
- Die Schulgesundheitsfachkräfte sind beim Gesundheitsamt angestellt und können bei Fachfragen dort auf den medizinischen bzw. psychiatrischen Sachverstand der dort tätigen Fachärzt*innen zurückgreifen.
Von dieser verlässlicheren Betreuung wiederum profitieren auch die Eltern – und hier insbesondere Alleinerziehende oder auch Beschäftigte, die nicht ohne Weiteres ihren Arbeitsplatz verlassen können, um ein erkranktes Kind von der Schule abzuholen. Das fällt auch den umliegenden Kinderarztpraxen auf, die nun viel weniger kostbare Zeit damit verbringen, den Eltern in solchen Fällen Bescheinigungen für den Arbeitgeber auszustellen. „Es gibt eine große Offenheit aller Beteiligten, das Projekt weiterzuführen“, sagt Prof. Dr. Ehehalt. Zumal der Nutzen von Schulgesundheitsfachkräften wissenschaftlich erwiesen ist. „Es gibt in diesem Punkt kein Wissens-, sondern ein Umsetzungsdefizit.“
Aktuell laufen Diskussionen mit den politisch Verantwortlichen darüber, wie sich die Schulgesundheitspflege in den nächsten kommunalen Doppelhaushalt integrieren lässt. Der Projektbeirat würde gern zwei weitere Schulstandorte mit Schulgesundheitsfachkräften ausstatten. Diese sollen sich zunehmend auch um die Gesundheitsförderung und Prävention an den Schulen kümmern. Zunächst will man sich weiterhin auf Schulen in Stuttgart fokussieren, perspektivisch soll das Projekt aber auf ganz Baden-Württemberg ausgedehnt werden. Und Prof. Dr. Ehehalt ist überzeugt: „Ich glaube, dass Schulgesundheitsfachkräfte in zehn Jahren bundesweit Standard sein werden.“